Aber wenn ich nach Petrow frage oder nach anderen Ereignissen, dann kommt nur wieder, dass ich keine Autorisation dafür hätte. Insofern kann ich weder bestätigen noch ausschließen, dass bei Petrow eingegriffen worden wäre. Ich hatte sogar gehofft, dass mein Vater da was damit zu tun gehabt hätte.“
„Gibt es irgendwelche Anhaltspunkte?“
„Na ja, ich bin 1980 geboren. Kurz danach muss er verschwunden sein. Wäre gut möglich, dass er uns verlassen hat, um im Jahr 1983 in der UdSSR eine Katastrophe zu verhindern. Aber das ist nur ein Bauchgefühl. Oder sogar eher Wunschdenken!“
Er sank sichtbar auf dem Beifahrersitz in sich zusammen. Sein neues Spielzeug ließ ihn immer wieder im Stich, besonders wenn in ihm Hoffnung aufkeimte, Spuren zu seinem Vater zu finden.
Brugger parkte seinen Wagen neben dem von Emma. Neben ihm saß ein geknickter zukünftiger Zeitreisender. Da war sie wieder seine Aufgabe als Vater der Kompanie! Musste diese Rolle ausgerechnet ihm zufallen, wo er doch nun wirklich nicht der Geduldigste und Einfühlsamste war? Irgendwie sollte wohl keinem von ihnen eine Comfort-Zone gegönnt sein in dieser Angelegenheit.
„Erik! Schaff dir nicht noch mehr Probleme, als du eh schon hast! Versuch nicht in jedes Ereignis der Geschichte eine mögliche Verwicklung dieser Leute aus der Zukunft zu interpretieren! Das macht dich sonst früher oder später kaputt, krank oder sogar verrückt. Solange du nichts Gegenteiliges erfährst, bleibt Petrow einfach unser persönlicher Held, okay?“
Erik nickte und schüttelte sich. „Weißt du was, Brugger? Ich glaube, ich könnt' mal wieder einen Wodka vertragen!“
Brugger hob den Zeigefinger und sagte: „Ich weiß genau, wo Karina das Zeug für Notfälle versteckt!“
Etwa zehn Minuten später, Emma hatte gerade den zweiten Wartungsdurchlauf des Dialysegeräts gestartet, schallte ein lauter zweistimmiger Ruf durch Karina Bruggers Haus: „Nastrowje, Stanislaw Jewgrafowitsch Petrow!“
Brugger schlich in den Keller des Hauses. Dort stand das Dialysegerät. Emma blickte ihn mit strengen Augen an. Natürlich hatte sie den übertrieben lauten Trinkspruch gehört, natürlich wusste sie, dass dazu Wodka getrunken worden war und natürlich roch sie den auch an ihm, als er vorsichtig zu ihr kam.
Da musste er jetzt durch. Der Wodka war nötig, um Erik wieder auf Kurs zu bringen, so dass Brugger sich wiederum mit vollem Einsatz seiner Tochter widmen konnte. Der Einstieg dazu würde etwas schwierig werden, was ihre ersten Worte auch gleich bestätigten.
„Wodka? Wirklich, Dad? Um kurz nach zwölf? Ist das für euch beide eigentlich alles ein großes Spiel, oder was?“ Die Stimme ging zum Ende hin so weit nach oben, dass es ihm in den Ohren weh tat und nicht nur in der Seele.
Brugger ließ sie noch etwas schnauben, weil er wusste, wenn er ihr direkt etwas entgegen halten würde, dann wäre das Eskalationspotenzial nur noch größer. „Emma, das war ein symbolischer Trinkspruch. Erik dreht voll am Rad wegen der ganzen Sache und ich hab' ihn so wenigstens wieder zum Lachen gebracht. Ich weiß, dass es dir wegen all dem hier nicht gut geht, aber ich brauche dich, wenn wir Erik nicht verlieren wollen!“
Damit war der Zorn auf ihn wie ausgeknipst. Die Worte waren vielleicht ein wenig manipulativ gewählt, aber nicht völlig unwahr. „Verlieren? Papa, was ist jetzt schon wieder los?“
Brugger sagte erst mal nichts, sondern nahm sie einfach in den Arm. Sie musste selbst erst mal alles loswerden, was sie belastete und er hörte ihr einfach zu. Natürlich war das alles zu viel für sie. Sie hatten ihr alles im Schnelldurchlauf um die Ohren gehauen und ihr keine wirkliche Wahl gelassen, ob oder in welchem Umfang sie helfen würde. Nicht, dass Brugger sie dabei haben wollte!
Auch das war ein notwendiges Übel, von dem ihn Erik überzeugt hatte. Emma war nun indirekt mitverantwortlich für die Abwehr der Katastrophen, die die Menschheit zu vernichten drohten. Und sie sollte diese Blutwäsche durchführen, damit Erik zu ausgerechnet dem Mann durch die Zeit reisen konnte, der ihn, wie er selbst so schön formuliert hatte, nach Strich und Faden verarschte. Das alles unter der Prämisse, dass es keine Alternative gab.
Also wollte Brugger seiner Tochter eine sinnvolle Aufgabe geben, um sie von all diesen Problemen abzulenken und damit gleichzeitig ihr Potenzial nutzen. Deshalb erzählte er ihr, dass er sich Sorgen um Erik und sein suchtähnliches Verhalten in Bezug auf das Neuro machte. Er schilderte ihr die Anzeichen, die er bemerkt hatte und als Ärztin war er bei ihr da selbstverständlich an der richtigen Adresse.
„Emma, ich weiß, es ist viel verlangt, aber wenn du dich so abweisend gibst, wie heute Morgen oder wenn du ihm zeigst, dass du resignierst und vielleicht nichts mehr von ihm wissen willst, dann treibst du ihn diesem Staam geradezu in die Arme. Verstehst du, was ich meine?“
Emma war baff und schüttelte den Kopf. Sie wollte sich schon rechtfertigen, aber Brugger war schneller. „Dieser Junge ist kein schlechter Junge. Egal, was ich vor ein paar Tagen noch von ihm gehalten haben mag. Ich verstehe nicht alles, was er so mit seinem Leben angefangen hat, aber ich glaube, das, was ihm am meisten gefehlt hat in seinem Leben, sind wirkliche Bezugspersonen. Wir müssen uns wirklich ein wenig als seine Familie betrachten und ihn unterstützen.“
Emmas Augen wurden langsam feucht. Brugger hatte die richtigen Knöpfe gedrückt, um sie in die Pflicht zu nehmen. Ihre Unterlippe bibberte schon leicht, als sie ihm antwortete. „Dad, du weißt, dass ich ihn mag. Aber das kann sein, dass er gleich“, sie schluchzte laut auf. „Dass er gleich für immer weg ist, wenn da irgendwas schiefgeht.“
Brugger nahm sie in den Arm, damit sie sich wie früher an seiner Schulter ausweinen konnte. Er überlegte, wie lange das letzte Mal her war. Definitiv, bevor sie mit dem Studium begonnen hatte. Nein, da waren auch Tränen während der Scheidung geflossen! Und damit wurden auch bei ihm die Augen feucht.
Nach ein paar Minuten hatten sich beide wieder beruhigt und Emma wollte wissen, was ihr Vater genau von ihr wollte. „Emma, sei mir nicht böse, aber du hast diesen Stur-Modus. Du hast ihm das gestern mit dem Geld nicht vorgeworfen, weil du ernsthaft an seine Mitschuld glaubst. Du warst auf das sauer, was du da gesehen hast. Weil sonst niemand da war, den du zur Rechenschaft hättest ziehen können, musste Erik dran glauben.“
Emma hatte die Arme verschränkt und die Lippen aufeinander gepresst. Sie blickte zu Boden, wackelte leicht mit dem Kopf und zuckte ein wenig mit den Achseln. Bei Brugger wären fast wieder die Tränen gekommen, als er erkannte, dass er auch diese Geste des verschämten Schuldeingeständnisses lange nicht mehr gesehen hatte. Wahrscheinlich würde er auch in zwanzig Jahren noch das kleine Mädchen in ihr immer wieder entdecken.
„Emma, ICH kann mit deinen Eigenarten umgehen, weil ich dich so viel länger kenne als er. Aber Erik weiß doch noch nicht, wie du tickst! Wenn das jetzt eine Alltagssituation wäre, würde ich sagen, dann muss er es eben lernen, aber dem Kerl geht extrem viel durch den Kopf und Vieles davon kommt aus diesem Drecks-Neuro. Ich will nicht, dass du dir alles gefallen lässt. Versteh mich da bloß nicht falsch! Aber ich glaube fest, dass DU sein Anker in dieser Realität oder Gegenwart bist.“
Brugger sah, wie sie ihre Augen weit aufriss und überdachte, was er ihr da gerade um die Ohren gehauen hatte. „Realitätsanker!“ Das war ihm vorhin eingefallen, als er mit Erik in der Wohnung noch diskutiert hatte. Brugger war bewusst geworden, dass Emmas Reaktionen Erik schon ein wenig zugesetzt hatten. Erst schien Emma besorgt gewesen zu sein und hatte sich gesträubt, die Blutwäsche durchzuführen und dann war sie etwas gleichgültig kopfschüttelnd abgezogen.
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