Kaum hatte sie das Abteil verlassen, brummte Opa mit blitzenden Augen unwirsch: "Ein leichtes Mädchen!"
Tom muss sehr dumm und ratlos geguckt haben, denn schon winkte Opa ab und sagte: "Vergiss es!"
Was dem Tom nun freilich nicht gelang. Ein leichtes Mädchen? So eine Dicke? Zu gern hätte er zurückgefragt, aber das ging nicht. Wer weiß, was Opa denken würde, wenn er, Tom, sich für ein „leichtes Mädchen“ interessieren würde. Was immer das sein mochte. Er musste unbedingt so tun, als sei ihm völlig gleichgültig, wer da in ihrem Abteil in der Ecke saß. Zum Glück hatte sich Opa inzwischen erhoben, knüpfte seine Weste zu, die er gern der Bequemlichkeit halber öffnete, und wandte sich zur Tür.
"Komm", sagte er, "wir gehen Mittag essen."
Das war nun wirklich eine feine Sache. Man konnte in einem D-Zug wie in einem Restaurant futtern! Aber vorher musste man den Speisewagen finden. Kaum stand Opa draußen auf dem Gang, wollte er von Tom wissen, in welche Richtung sie gehen mussten. Da war Tom überfragt. Opa hielt ihm vor, er hätte doch in Leipzig, als er draußen am Zug entlang gelaufen sei, den roten Mitropa-Wagen sehen müssen. Ein roter Wagen? Da war guter Rat teuer.
Zum Glück kam gerade der Kellner von seiner Tour zurück, und damit war klar, in welche Richtung sie gehen mussten. Aber so einfach war das gar nicht. Der Zug schlingerte elendig. Und diese Übergänge von Waggon zu Waggon! Wahre Höllenschlünde! Unten rasten die Schwellen vorbei. Überall Lücken, durch die Luft pfiff. Tom schienen die Löcher so groß, dass solch schlanker Bursche wie er glatt hätte durchfallen können. Jedenfalls war Tom heilfroh, als sie endlich angelangt waren.
Große Fenster. Bequeme Sitze. Gedeckte Tische. Saubere, freundliche Menschen. Wunderbar! Wie im Märchen! Und das leichte Mädchen an einem anderen Tisch. Eigentlich schade. Tom hätte zu gern gewusst, was solch ein Mädchen isst. Jedenfalls war er ziemlich abgelenkt, so dass ihm eine Gabel vom Tisch fiel, was nun wirklich nicht hätte passieren dürfen.
"Träum nicht!" rügte Opa.
Schon stand ein Kellner an ihrem Tisch und reichte eine neue Gabel, was immerhin auch ganz interessant war. Und zu Opa gewandt sagte er, er solle sich nicht bemühen, die Gabel werde sich schon finden. Tom, der brav aufstehen wollte, um das Ding zu suchen, wurde angehalten, schön sitzen zu bleiben. Gerade jagte der Zug durch irgendeine Kurve, und ein anderer Kellner hatte Mühe, die vollen Gläser auf seinem Tablett heil an Ort und Stelle zu befördern. Tom bekam eine Cola, Opa sein Bier. Wernesgrüner, darauf hatte er bestanden.
Alsbald kamen die Speisen. Opa hatte für sie beide Wiener Schnitzel bestellt. Es schmeckte einfach wundervoll! Tom fühlte sich sehr, sehr wohl. Gern wäre er noch in diesem geräumigen Wagen geblieben, doch Opa drängte zum Aufbruch, nachdem er gegessen und sein Bier ausgetrunken hatte. Er wollte, meinte er, ihre Koffer nicht so lange allein im Zugabteil lassen. Das war zu verstehen. Noch einmal kam der beschwerliche Trab durch die Höllenschlünde zwischen den Waggons.
Nachdem sie wieder in ihrem Abteil angelangt waren, wo sie übrigens alle Gepäckstücke noch vorhanden fanden, schien eigentlich die Zeit gekommen, mit vollem Bauche einfach nur so zu dösen. Doch es geschah etwas Ungeheuerliches. Es kam aus heiterem Himmel und war unfassbar.
Tom hatte ein Weilchen gesessen und schläfrig ein bisschen vor sich hin geduselt. Opa hatte sich an seinen Mantel gelehnt und war eingeschlummert. Die leichte Dame hatte irgendeine Zeitschrift zur Hand genommen und sich darin vertieft. Tom verspürte nicht einmal eine Neigung, sie insgeheim zu beobachten. Er war fertig mit ihr. Ja, sie war dick, nicht fett, aber zu dick, und sonst gab es nichts an ihr zu bewundern. Die beiden Fleischberge machten ihn zwar irgendwie unruhig, aber jetzt waren sie hinter der Zeitung verschwunden.
Tom überkam angenehme Schläfrigkeit. Dieses gleichmäßige Rütteln des Waggons löste und lockerte. Entspannt hockte er auf seinem Sitz. Plötzlich spürte er eine ihm vertraute Regung. Langsam, ganz langsam erhob sich sein Pimmel! Allmählich und unerbittlich geradezu majestätisch. Tom war total ratlos. Was jetzt? Verstohlen verschaffte er seinem Struller erst einmal Platz in der Hose. Was gar nicht so einfach war; denn er konnte sich ja nicht nach Belieben bewegen. Tom schaute. Die beiden schienen seine Not nicht bemerkt zu haben.
Inzwischen hatte er einen prallen Pimmel, dass ihm ganz heiß wurde. Was sollte werden? Er konnte doch jetzt nicht seine Hose beschmutzen. Mit dem steifen Ding aufstehen und sich in den Gang verdrücken oder zur Toilette gehen, war ausgeschlossen. Heimlich, dabei immer Opa und die Dame kontrollierend, legte er seine Hand auf die Stelle, um die Erhebung unter der Hose zu verdecken. Himmel, was tun? Warum eigentlich nicht einfach den Hosenstall aufsperren und den strammen Schwengel in die frische Luft herauslassen? Für einen Moment stellte sich Tom vor, was wohl das leichte Mädchen für Augen machen würde.
Blöd, elend blöd das alles. Weshalb schwoll sein Pimmel an? Hatte das irgendeinen tieferen Sinn? Tom konnte sich's nicht erklären. Plötzlich guckte die Dame zu ihm, ließ den Blick langsam zu seiner Hand wandern. Ihm schoss das Blut in den Kopf. Wahrscheinlich sah er jetzt knallrot aus im Gesicht. Tom wünschte, im Boden zu versinken. Ganz ruhig! sagte er sich. Die Madame konnte nichts bemerkt haben. Dass sie lächelte, musste reiner Zufall sein.
Da! Ein Bahnhof! Das war die Rettung. Der Zug verlangsamte die Fahrt, hielt, Leute stiegen ein und aus. Tom spürte, dass sich die Lage bei ihm da unten entspannte. Meine Güte, was einem alles passieren kann!
Wie die Stadt hieß, in der der Zug gehalten hatte, war Tom entgangen. Opa, der aufgewacht war und es wissen wollte, war verwundert. Aber Tom konnte ihm ja nicht sagen, was ihn eigentlich beschäftig hatte. Opa lehnte sich wieder zurück, die Madame war hinaus auf den Gang getreten, um zu rauchen. Tom fühlte sich unbeobachtet. So sehr er sich nun aus Neugier und Drang mühte, seinen kleinen Kerl sozusagen per Befehl noch einmal auf Trab zu bringen, fruchtete nichts. Es blieb ein Geheimnis, auf wessen Geheiß sich dieser Schlingel so mächtig ins Zeug legen konnte. Tom grübelte und grübelte. So kam Bremen schneller herbei, als vermutet.
Auf dem Bahnsteig warteten Tante Erna und Onkel Jupp, gekleidet wie feine Leute. Der Onkel zog Tom fröhlich an seine Brust, die Tante drückte ihm hurtig ihre Lippen auf den Mund. Das war nun aus heiterem Himmel etwas ganz Neues. Mutter pflegte ihn so nie zu küssen. Wenn sie ihm ein Küsschen gab, dann auf die Wange oder auf die Stirn. Auf den Mund nie. Und jetzt war ihm, als habe ihm Tante Erna irgendetwas Cremiges auf seine Lippen gedrückt. Und das schmeckte zwar nicht gerade eklig, aber undefinierbar fad. Tom wischte sich verstohlen den Mund.
Inzwischen saßen sie im kleinen DKW von Onkel Jupp und kurvten durch belebte Straßen. Das war aufregend. Tom fuhr gern Auto, obwohl er mit dem Benzingeruch manchmal Probleme hatte. Da Autofahren für ihn etwas höchst Seltenes war, konnte er sich auch nicht daran gewöhnen. Das bedeutete, dass es ihm in der Benzinluft schon mal übel werden konnte. Aber jetzt in der fremden Stadt war die Ablenkung so groß, jetzt überstand er die kurze Fahrt ohne Schwierigkeiten.
Alsbald hielten sie vor einem vornehmen Haus. Tom war beeindruckt. Tante Erna bewohnte mit ihrem Mann, einem Kaffeehaus-Musiker, mit dem sie ihren Eltern durchgebrannt war, eine schöne große Wohnung im ersten Stock. Eine separate Treppe führte nach oben zu den Zimmern, in denen ein Kater residierte, der – wie sich herausstellte – nicht bereit war, sich mit Tom anzufreunden. Opa verscherzte es übrigens von Anfang an bei ihm, weil er aus purem Schabernack seinen Schal nach ihm warf, kaum dass sie angekommen waren.
Читать дальше