Die Bedienung griente ihn vielsagend an und strich sich seine fast schulterlangen, rotbraunen Haare hinters Ohr.
„Feiern? Hier in Idar Oberstein? Wo habt ihr denn den Tipp her?“
„Hach, so ein Dreck. Trotzdem danke,“ meinte Stan und sank in seine Stuhllehne. Sein Kumpel gab jedoch nicht auf.
„Wo gehst du denn hin, wenn du Bock auf Party hast?“
„Na, nach Bad Kreuznach. Hier kannste nur den Alten beim Sterben zuhörn.“
Der junge Mann nickte ihnen mit einem leisen, belustigten Lachen nochmal zu und stieg dann die Treppen hinauf zur Bar, um die Drinks zuzubereiten.
„Nachdem das hier voll die Pleite ist, lass uns morgen früh nach dem Frühstück gleich nach Bad Münster fahren. Hoffentlich ist da ein bisschen mehr los.“
„Das ist ein Kur Ort …“, entgegnete Alexei, „allerdings gehen wir ja dort hin, um den Weg abzuwandern, den deine Schwester gelaufen ist.“
„Ja ja, ich weiß. Morgen wird gewandert“, murmelte Stan und fragte sich gerade selbst im Stillen, warum er die Suche nach Lara nicht einfach aufgeben konnte. Nur noch dieser Urlaub, schwor er sich. Dann würde er mit aller Kraft versuchen, die Vergangenheit ruhen zu lassen.
Kapitel 6, Montag: 11.00 Uhr – Teil 1
Mit einem lauten Quietschen hielt der Zug am Gleis des winzigen Bahnhofs. Sie streckten sich und stiegen aus. Stan gähnte und reckte sich abermals an der frischen Luft, die bereits jetzt viel zu schwül war. Das frühe Aufstehen, die Sommerhitze und das reichhaltige Frühstücksbuffet machten ihn schläfrig. Träge rieb er sich die Augen und sah sich um, während Alexei das Tagebuch seiner Schwester in der Hand hielt und darin blätterte.
„Laut ihren Aufzeichnungen müssen wir nur den Bahnhof verlassen und dann immer geradeaus, bis wir an die Fußgängerzone kommen“, schlussfolgerte er aus den Notizen, ohne aufzublicken. Stan hörte ihm jedoch nicht zu.
„Sag mal, kann es sein, dass wir die einzigen Leute auf dem Bahnhof sind? Wirkt fast wie in einem Geisterfilm.“
„Sieht so aus. Was soll's. Lass uns starten.“
Stan folgte Alexei durch die Unterführung nach draußen. Sein Blick kreuzte das mickrige und vernachlässigte Bahnhofsgebäude. Erleichtert atmete er aus, als er die gut erhaltenen Gebäude sah. Alexei grinste ihn wohl wissend an.
„Da scheint aber einer zufrieden zu sein.“
„Zufrieden wäre übertrieben, aber ja, heilfroh, dass es hier normal ausschaut. Auch einige Leute sind auf den Straßen unterwegs. Viel belebter als Idar Oberstein.“
„Hätten wir uns wohl lieber hier ein Hotel nehmen sollen, oder?“
Stan zuckte mit den Schultern.
„Kann sein, aber noch haben wir nicht alles gesehen.“
„Richtig. Dann mal los.“
Lange mussten sie nicht suchen. In weniger als fünf Minuten gelangten sie zur Fußgängerzone, die aus einem Hotel und ein paar Eiscafés bestand.
„Ist das alles? Der Fußgängerbereich ist gerade mal vierhundert Meter lang …“ Stan schüttelte verständnislos den Kopf. „Sind wir richtig?“
„Ich denke schon“, meinte Alexei und blätterte abermals in dem Tagebuch.
„Soweit ich mich erinnern kann, steht da aber nichts von einer riesigen Baustelle gegenüber den Cafés. Und glaub mir, ich kenne ihr schrulliges Buch fast auswendig.“
„Mh … die scheint neu zu sein. Ist ja immerhin vier Jahre her ... Am Ende der Zone müssen wir nach links in den Park.“
„Da sollten die Salinen sein, richtig?“
„Korrekt.“
„Wie schaut‘s? Lass uns einen Kaffee mitnehmen.“
„Gute Idee. Vielleicht wirst du dann auch endlich mal wach“, witzelte Alexei und Stan streckte sich genüsslich.
„Wer weiß, wer weiß.“
*
Die Salinen hatten sie nicht lange suchen müssen. Sie waren nicht zu übersehen. Nun saßen sie auf einer der vielen Parkbänken, atmeten die frische Luft tief ein und nippten an ihren Pappbechern. Stan gähnte und legte den Kopf mit geschlossenen Augen in den Nacken, während Alexei sich neugierig umsah. Lara hatte in ihren Einträgen regelrecht von Bad Münster geschwärmt. Klar, es war nicht übel, jedoch tatsächlich für ältere Leute von denen es im Park nur so wimmelte. In ihren Notizen hatte sie nicht viele Menschen erwähnt. Er selbst hatte sie nie kennengelernt, doch sie schien nicht gerade extrovertiert oder ein Menschenfreund gewesen zu sein. Wie auch immer: Die Burgruine war schon in Sicht, ebenso wie die Fähre, die sie erwähnt hatte. Sie war also wirklich da gewesen, wenngleich sein Kumpel weiterhin daran zweifelte, doch wieso eigentlich?
„Sag mal, glaubst du noch immer, dass Lara gar nicht hier gewesen ist?“
„Pfh … keine Ahnung. Richtig überzeugt bin ich nicht.“
„Aber warum? Bisher stimmt doch alles, was sie beschrieben hat, also Umgebungstechnisch.“
„Das kann sie genauso gut im Internet rausgesucht haben, um sich hin zu phantasieren. Die Trantüte ist meistens nicht raus und hat sich ihre gewünschten Storys erträumt.“
„Ich weiß nicht so recht …“
„Man findet alles im Internet. Gebe Bad Münster mal in einer Suchmaschine ein und du wirst genau die Dinge finden: Kurort, Salinen, traditionelle Fähre, Burgruine.“
Alexei runzelte die Stirn und schwieg. Er befand sich im Zwiespalt. Stan mochte zwar mit der Tatsache richtig liegen, dass man alles im Internet fand, doch sollte Laras Wunschdenken und Träumerei derart weit gegangen sein, dass sie tatsächlich Fakten aus dem Netz gezogen hatte, um ihre Geschichten zu spinnen? Irgendwie hielt er das für unwahrscheinlich.
„Vielleicht finden wir oben auf der Ruine einen Hinweis“, versuchte er, seinen Freund zu motivieren, der sich müde die Augen rieb. Er konnte nicht nachvollziehen, warum Alexei derart dahinter war, Anhaltspunkte zu entdecken. War nicht er es gewesen, der meinte, er solle mit Laras Verschwinden abschließen? Wieso auf einmal die Kehrtwende? Er wusste nicht, ob er sich darüber freuen oder ärgern sollte.
„Glaube kaum, aber deswegen sind wir ja da.“
„Klingt hochmotiviert.“
„Tja, ich denke noch immer, dass wir hier nichts finden werden. Oder hören sich für dich die Namen Allen, Lycastus, Kralle und Hieronymus besonders real an?“
Alexei konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen.
„Nein, tatsächlich nicht.“
Kapitel 7, Montag: 13.30 Uhr – Teil 2
Sie warteten geduldig, bis die letzten Fahrgäste die Fähre verlassen hatten, zahlten jeweils einen Euro für die Überfahrt und stiegen auf das Boot. Der Fährmann unterschied sich völlig von Laras Beschreibung. Entweder war es ein anderer, was nach vier Jahren nicht verwunderlich wäre, oder sie hatte die Geschichte wirklich erfunden. Mit ihnen fuhren noch zwei Familien zur anderen Seite. Die Überfahrt dauerte lediglich fünf Minuten, in denen ihnen der Bootsführer, der sie gekonnt über die Nahe zog, einiges zur Burgruine Rheingrafenstein erzählte. Der Ansturm war recht groß. Anscheinend waren viele Leute und Familien auf die Idee gekommen, zu wandern. Stan seufzte. Alles Verrückte. Wäre er nicht auf Spurensuche, dann wäre er bestimmt nicht hier und schon gar nicht zum Wandern.
Sie stiegen als Erstes aus und ihr Blick fiel sofort auf einen Eingang mit offenem Gittertor, hinter dem verschiedene Skulpturen zu erkennen waren. Alexei lief voraus und blieb davor stehen, wieder einen Blick in das Tagebuch werfend.
„Ob das der Märchenpark ist?“
„Sieht ganz danach aus“, meinte Stan und deutete auf ein kleines, grünes Schild in Form eines Pfeils, das auf den Durchgang zeigte und auf dem „Eingang Märchenhain“ zu lesen war.
„Oh, okay. Vielleicht sollte ich weniger in die Notizen schauen und mehr darauf achten, was vor uns liegt.“ Er klappte das Buch zu und gab es seinem Kumpel zurück, der es im Rucksack verstaute.
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