"Unmöglich!", rief er aus, denn das war es: absolut unmöglich. Nach vier Minuten kam niemand zurück. Nicht nach einem Hirntod.
Sander sah aus den Augenwinkeln, wie auch Sandrine den Kopf hob, das Gesicht nass vor Tränen. Die Augen gerötet. Viele goldene Strähnen hatten sich aus dem geflochtenen Zopf gelöst, der ihr fast bis zur Hüfte reichte.
Ihre gesamte Erscheinung mutete an, wie ein gebrochener Racheengel.
Hoffnung keimte in ihrem Gesicht auf — zaghaft, als traue sie sich nicht, zu viel zu wagen. Eine erneute Enttäuschung wäre vernichtend.
Sander fragte sich, was sie so stark mit Skeyra verband.
Gleichzeitig mit ihr wandte er den Kopf, um auf das EKG zu starren. Das Piepen verschwand. Herztöne.
20 Schläge in der Minute.
40.
60.
80.
85.
"Stabil bei 85 Schlägen", rief Nimor. "Ich glaube, wir haben sie. Skeyra lebt."
Sandrine sprang auf. Sie lachte und weinte gleichzeitig. Umarmte Sander.
Überrascht erwiderte er die Umarmung und barg ihren Kopf an seiner Brust.
"Es wird alles gut", flüsterte er. "Sie wird leben."
Viel zu früh löste sich Sandrine aus seinen Armen. Sie roch gut. Er hätte sie gern länger getröstet. Ohne Hintergedanken, was zugegeben selten bei ihm war. Er mochte die Frauen einfach zu sehr, als dass er ihnen keine Freude bereiten würde. Und die größte Freude entfaltete sich nun mal im Bett. Oder Heu. Oder wo immer sich Gelegenheit fand.
Die Spionin des Widerstands strich Skeyra über die Haare — flachsblonde Männerhaare.
"Du wirst leben", hauchte sie. "Skeyra, bitte. Wach auf."
Die Lider zuckten. Der Körper, der den Transfer empfangen hatte, bäumte sich zitternd auf. Dann erschlaffte er.
Stille.
Thorsmid zog die Elektroden aus dem Schädel. Er verschloss die Wunden mit Synthohautspray.
Eine Achterbahnfahrt der Hirnaktivität setzte ein.
Besorgt blickte Sander auf den Monitor. Hier war er der Experte.
Sandrine und Nimor blickten zu ihm.
Die Augenlider flatterten, der Monitor beruhigte sich.
Sander nickte Sandrine zu. Alles in Ordnung.
Die Widerständlerin nahm den Kopf des neuen Körpers in ihre Hände. "Skey, bist du da? Bitte antworte doch, Kleine!"
Die Augen des Männerkörpers öffneten sich. "Wo zur Hölle bin ich?"
Erleichtertes Lachen. Nimor, Sandrine und Sander fielen sich in die Arme.
Sandrine küsste Sander auf die Wange.
"Skey. Du hast uns wirklich für einen Moment erschreckt." Nimor lächelte, als er Skeyras neuen Körper von den Riemen befreite, mit der ihr Kopf und ihre Gliedmaßen auf das Bett geschnallt waren.
Männeraugen blickten Nimor verständnislos an.
"Ich bin Laric, Laric Svensson."
"Der Wal", rief er aus. "Er muss mich zurückgebracht haben."
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Ein verwirrter Fischer
Laric war erleichtert. Er hatte überlebt. Seine Eltern hätten einen weiteren Verlust nicht gut verwunden.
Wieso war er nicht im Krankenhaus? Oder zu Hause?
Wo zum Teufel war er?
"Hast du das Gefühl, fremde Gedanken zu haben?"
Eine braunhaarige Schönheit redete auf ihn ein. Ihre Haare trug sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Freche Strähnen fielen ihr in die Stirn, als sie sich zu ihm herunterbeugte.
Sie mochte ein paar Jahre älter sein, als er.
Was meinte sie? Was wollte sie?
"Wie meinst du das?" Laric fühlte sich seltsam. Nach dem Sturm, dem Sog im kalten Wasser, der ihn immer tiefer zog — er hatte nicht erwartet, die Augen noch einmal aufzuschlagen. Schon garnicht im Vollbesitz seiner Kräfte - mehr oder weniger.
"Spürst du ein fremdes Bewusstsein? Noch eines?", drang die schlanke Frau weiter auf ihn ein.
Ihre Lederjacke verlieh ihr ein raues Äußeres, als wäre mit ihr nicht gut Kirschen essen. Diese Frau war kein Zuckerpüppchen.
"Ich fürchte ich verstehe nicht", gab Laric zurück.
"Meine Tochter ist da drin." Die Frau tippte mit ihrem Zeigefinger an seine Stirn.
Sie sank in sich zusammen. "Zumindest sollte sie es sein."
Laric überlegte. Diese Frau war Mitte Zwanzig. Ihre Tochter, selbst wenn sie mit 18 entbunden hätte, konnte allenfalls 6-8 Jahre alt sein.
"Ihr habt ein Kind in meinen Körper..." Er unterbrach sich.
"Mit diesem Bionetic-Scheiß?"
"Moment, Freundchen." Ein blonder Kerl, um die Dreißig, mit Dreitagebart und langen Haaren, fuhr in die Höhe.
Laric schüttelte den Kopf. "Nein, hier drin ist niemand außer mir. Ich wünschte, ich hätte deine Tochter... Moment." Laric hielt inne.
Hoffnungsvoll sah die Frau ihn an.
Laric riss die Augen auf. "Sie sind Professor Thorsmid und Professor Marrado... O mein Gott."
Laric sprang auf, stieß die Frau zurück, so dass sie gegen die beiden Professoren fiel, und rannte zur Tür. Er riss sie auf.
Etwas piekte in seinen Rücken.
Er lief in die Nacht. Es regnete. Er trat mit dem linken Fuß in eine Schlammpfütze. Laric registrierte es kaum.
Schon nach kurzer Zeit, während er durch die Gassen der Oberstadt rannte, spürte er, wie seine Beine weich wurden, als hätte er zu viel Stavafeuer getrunken.
Er sackte zusammen. Eisiges Wasser tränkte seine Hosenbeine. Grabeskälte schlich sich in seine Knochen.
Kurz darauf hoben Sandrine und Nimor ihn hoch und luden seinen Körper auf Nimors Schulter.
"Es ist nur ein Betäubungsmittel" hörte Laric, bevor sich ein weiteres Mal die Schwärze über ihn senkte. Diesmal füllten sich seine Lungen jedoch nicht mit eiskaltem Wasser.
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Verschleppt
Laric hob den Kopf. Er saß auf einem Stuhl. Gefesselt.
Sander Marrado saß ihm gegenüber. Daneben die brünette Mittzwanzigerin, die sie Sandrine nannten. Sie war attraktiv, durchaus.
Thorsmid hielt ein Betäubungsgewehr in der Hand.
"Nur zur Sicherheit." der Professor lächelte grimmig.
"Ist sie jetzt bei dir?", erkundigte sich Sandrine. Sie suchte ihre Tochter. Daran erinnerte er sich.
"Nein. Leider." Laric senkte den Blick. Ein kleines Mädchen in seinem Geist — das hätte ihm noch gefehlt. Dennoch: Er wünschte, das Mädchen würde da sein. Irgendwie fühlte er sich schuldig, weil sie es nicht war.
"Dann ist sie tot." Nimor Thorsmids Stimme klang endgültig. "Es tut mir leid, Sandrine."
"Nein." Die schlanke Schönheit rutschte zu Boden. Sandrine. Sie wirkte innerlich zerstört — kein Wunder.
"Nein", hauchte sie ein weiteres Mal. "Meine kleine Skeyra."
"Wie alt war sie?", wollte Laric wissen.
"23. Sie war 23." Sandrines Stimme klang kraftlos.
Laric schüttelte den Kopf. In diesem Fall müsste die Frau mindestens Anfang 40 sein. Das ließ sich mit ihrem Aussehen nicht vereinbaren. Vielleicht war sie geistesgestört.
Sander sah finster drein. Er packte Sandrine bei den Schultern.
"Ich glaube, du hast uns und der Welt so einiges verschwiegen. Wenn es stimmt, was ich glaube, ist Sandrine nicht dein wirklicher Name."
Laric horchte auf. Bahnte sich zwischen seinen Entführern ein Streit an? Vielleicht bot ihm das eine weitere Chance zur Flucht.
Nimor Thorsmid sah Sander Marrado ebenso überrascht an, wie Laric. "Wer zur Hölle ist sie deiner Meinung nach? Meinst du etwa, Olivia Feralov wäre allen Ernstes wiederauferstanden?"
Mit bedeutungsschwerer Stimme durchbrach Marrado schließlich die unheimliche Stille, die sich im Raum breit gemacht hatte.
"Wenn ich recht habe, ist sie die erste Frau Norgenons, die einen Bewusstseinstransfer zuwege gebracht hat. Vor Jahren. Vor dem Unfall, bei dem sie angeblich starb."
Sander zeigte auf Sandrine. "Du hast richtig vermutet, Nimor. Diese Frau ist niemand anderes als Skeyras Mutter: Doktor der Bionetic, Olivia Feralov."
Das haute selbst Laric aus den Socken. Jeder kannte sie aus den Nachrichten. Sie war bei einem Unfall gestorben, zusammen mit ihrem Ehemann. Nur die Tochter hatte überlebt. Sie war ungefähr im selben Alter, wie er selbst.
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