"Habt ihr jemanden für mich umgebracht?", frage ich.
Ich werde - weiterhin festgeschnallt - in eine halb sitzende Position aufgerichtet. Das Bett auf dem ich liege, ist per Elektromotor verstellbar.
Ich sehe einen Mann. Jung, kräftig, gutaussehend. Blonde, halblange Haare, Bartstoppeln.
"Ein ertrunkener Fischer", erklärt Sander. "Die Reanimation hat gewirkt, aber sein Gehirn zeigt seit Tagen keine Aktivität mehr. Sie haben die Herz-Lungen-Maschine abgeschaltet. Er wäre bereits tot, wenn wir ihn nicht wieder angeschlossen hätten."
"Ich soll ein Mann werden?" Heiterkeit breitet sich in mir aus, wie Gänseblümchen auf einer Frühlingswiese. Man bin ich zugedröhnt.
Schmetterlinge lassen sich auf der Wiese nieder und kitzeln mich.
"Es war nichts anderes im Hospital."
"Wenn das mal gut geht", grinse ich, als wäre ich frisch verliebt. "Ich könnte ja mal mit dir ins Bett, Sandrine. Das wäre sicher eine spannende Nummer, Süße."
Sandrine errötet. Wie ungewöhnlich.
"Heij, lache ich. Ich könnte es dir mit so einem mächtigen Ding so richtig bes..."
"Ist ja gut", beruhigt Sander mich. "Es geht los. Du musst ganz still sein."
Sandrine wirft ihm einen dankbaren Blick zu.
Sander zuckt mit den Schultern. "Morphium halt", grinst er.
"Du stehst völlig neben dir, Liebes." Sie streicht mir über die Stirn. "Ich bin immer für dich da, aber ganz sicher nicht auf diese Weise."
Erst jetzt nehme ich wahr, dass ich den Raum, in dem wir uns befinden, noch nicht kenne. Mein Körper liegt auf einem Bett in einem Holzschuppen. Das Äußere trügt. Abgesehen von den Holzwänden ist alles andere technisch vom Feinsten. Steril. Fast klinisch.
Der männliche, eher drahtige, Körper ist festgeschnallt, an seinem Kopf, mit dem flachsblonden Haar sind Elektroden zur Hirnstrommessung angebracht, Ein Pulsgurt spannt sich über seine Brust. Sie ist nicht übermäßig breit, lässt aber erkennen, dass dieser Körper trainiert wurde. Vielleicht ist die Fischerei kein so übler Beruf.
Mit diesem Körper könnte ich ganze Schwärme von Frauen glücklich machen. Alle würden sie auf mich stehen.
Aber eigentlich will ich doch Männer. Dann muss ich das Ufer wechseln, wie man so schön sagt. Ob ich das will?
Vielleicht werde ich auch einfach Fischer und lasse alle Sorgen hinter mir. Niemand weiß dann, wer ich bin. Endlich finde ich Frieden, ohne zu sterben. Eine gute Aussicht.
Sandrine betrachtet mich. Ihr Gesicht scheint besorgt. "Hast du Angst um mich?", frage ich.
"Wenn du wüsstest", sagt sie nur mit feuchten Augen. Sie küsst mein Haar und meine Stirn, die eigentlich nicht mehr meine ist, sondern die von Sirani Berlyn, der Pilotin.
Auch die Profs sind angespannt. Ich kann ihren Schweiß riechen. Sie arbeiten schnell und akkurat, auch wenn sie sich Sprüche an den Kopf werfen.
"Wir haben sehr wahrscheinlich nur einen Versuch", gibt mir Professor Nimor Thorsmid mit ernstem Gesichtsausdruck zu verstehen.
Alle schweigen.
"Es geht los." Sanders Tonfall ist nüchtern, als er einen Knopf drückt.
Ich fühle mich seltsam. Surreal. Ich fliege über eine Wiese. Ich bin ein Schmetterling. Über mir ist ein Staubsauger. Ich spüre den Sog, flattere. Doch es gibt kein Entkommen. Ich werde in den schwarzen Luftstrom eingesogen und herumgewirbelt. Schwärze. Ich verliere mich.
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Bange Minuten
Nimor hasste diesen Moment am meisten. Es war das erste Mal, dass er unmittelbar bei einem Transfer anwesend war, wie ihm Sander immer wieder unter die Nase gerieben hatte.
Er konnte nichts tun. Er musste abwarten und hoffen, dass die Bots, die Sander neu programmiert hatte, ihr Werk taten.
Sie bekamen ihre Informationen von denen, die in Skeyras Körper aktiv waren.
"Achtung", rief Sander. Skeyra bäumte sich auf. Die Muskeln an Armen und Beinen begannen zu krampfen.
Nimor spritzte eine Mischung aus Kalium und Magnesium mit Muskelrelaxanzien, darunter Acetylsalicylsäure und Chinin. Skeyra steuerte unweigerlich auf einen Kreislaufkollaps zu.
"Kammerflimmern", rief Sandrine.
Nimor warf einen schnellen Blick auf das EKG. Sandrine hatte recht. Die Frau war wirklich umfassend ausgebildet.
Der Empfängerkörper begann zu zucken. Er war 24, wie auf dem Totenschein am Zeh zu lesen war. Sein Puls lag bei 150. Viel zu hoch. Das EEG, Das Gerät, das die Hirnaktivität überwachte, zeigte viel zu schwache Ausschläge an.
Nimor fluchte. "Adrenalin, volle Dosis!"
"Für wen?" schrie Sandrine, die aufgezogene Spritze in der Hand.
"Für beide. Erst Skeyra."
Nimor blieb sachlich, obgleich er innerlich aufgewühlt war.
"Zum Glück ist uns das beim ersten Mal nicht passiert." Sander wirkte angespannt, wie selten zuvor.
Die Spritze zeigte kaum Wirkung.
"Noch eine Dosis", forderte Nimor. "Schnell!"
Sandrines Finger zitterten immer stärker.
Nimor nahm ihr die Spritze aus der Hand und zog den Rest auf. Eine genaue Bestimmung der Menge war jetzt zweitrangig. Skeyras Lebensuhr lief ab.
Thorsmid rammte ihr die Spritze ins Herz und drückte den Inhalt gewaltsam hinein.
Sandrine zog unterdessen eine zweite Spritze auf und verabreichte sie dem Jungen. Sie schien sich wieder im Griff zu haben.
"Abbruch!", schrie Sander. Sein blonder Zopf flog hin und her, als der jüngere Kollege Nimors hektisch die Werte der Instrumente ablas.
Nimor Thorsmid erstarrte, als das EKG statt der Herztöne nur noch ein Piepen von sich gab und eine gerade Linie zeigte.
Sandrine schrie, ihr Gesicht war vor Verzweiflung verzerrt.
"Nein! Skey!"
"Kein Abbruch", rief Nimor. Er schlug Sanders Hand weg, die bereits über dem roten Knopf schwebte.
"Ihr Körper ist tot. Herzstillstand, Hirnkurve bei null."
Sander nickte. "Was jetzt, Nimor?" Er kaute an ein paar seiner rotblonden Haarsträhnen. Seine Finger zitterten.
Sandrine knabberte an ihren Nägeln. "Nein. Bitte lass es klappen. Lass sie leben."
Sie betete laut zu den sieben Urdrachen. Nimor hatte keine Ahnung, ob sie existierten. Aber wenn Skeyra dies hier überlebte, würde er konvertieren. Die Chancen standen denkbar schlecht.
"Lieber sterbe ich ", rief Sandrine. "Nehmt mich. Skey hatte nie eine Wahl. Ich bin an allem schuld."
Die Linien von Hinrstrom und Puls beider Körper fielen fast zeitgleich auf null. Auch der Junge Fischer war oder — wenn man so wollte — blieb tot.
"Kein Herzschlag, keine Hirnaktivität", konstatierte Sander Marrado. Nimors Freund. Sie würden sich brauchen, um diesen Rückschlag zu verarbeiten. Die Niederlage war vollständig: technisch, menschlich, persönlich.
"Es tut mir leid.", sagte er mit rauer Stimme. "Wir haben sie beide verloren."
Tränen benetzten Sanders Gesicht. Sandrine brach weinend zusammen, von Krämpfen geschüttelt.
Nimor stand einfach da. Sein Körper fühlte sich taub an. Sein Lebenswerk hatte Skeyra getötet — das Mädchen, das ihm seinen Lebensmut zurückgegeben hatte. Sie hatte ihn dazu gebracht, wieder nach seiner Frau zu suchen. Sie hatte einen erfolgreichen Transfer hinter sich. Seine Forschung war nicht vergebens. Und nun weigerte sie sich, den zweiten Transfer ebenso erfolgreich zu vollziehen.
Nein, gestand er sich ein. Es lag nicht an ihr. Es war seine Schuld. Seine Vermessenheit.
Das langgezogene Piepen der Geräte brannte sich in sein Hirn.
#
Hoffnung
Wie lange hatte er auf dem Hocker verbracht, den Kopf gesenkt, die Hände vor den Augen, die Flüsse von Tränen produzierten, wie selten zuvor?
Sander wusste weder ein noch aus.
Zuerst nahm er es in seiner Trauer nicht wahr. Doch dann rief Nimor: "Hirnaktivität beim Empfänger."
Sanders Kopf ruckte hoch. Jetzt sah er es auch. Das EEG zeigte wieder Spitzen; nach vier Minuten Flatline. Flatline, die Bezeichnung für die gerade Linie des Hirntods.
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