Endlich konnte sie dieses lähmende Gefühl abschütteln und sie streckte die Hand nach der Nachttischlampe aus. Sie glaubte, ein schwaches Klicken zu hören, als sie sich umdrehte. Als die Lampe brannte, war sie zuerst so geblendet, dass sie die Augen schließen musste. Dann sah sie einen fast durchsichtigen Schatten durch ihr Schlafzimmer huschen.
Chloé rieb sich die Augen und sah sich prüfend in ihrem Zimmer um. Ihre Blicke blieben an ihrem Schreibtischstuhl haften und weiteten sich vor Entsetzen.
Auf dem Stuhl saß eine Frau!
Sie war fast durchscheinend, als wäre sie aus feinstem Stoff gewebt, und schien von innen heraus zu schimmern. Die blau geschminkten Augen blickten sanft und freundlich. Ihre schwarzen Haare fielen bis zu den Schultern, waren auf der Stirn zu einem geraden Pony geschnitten. Sie hatte ein goldenes Diadem auf dem Kopf, von dem lange glänzende Fäden hingen. Um den Hals lag eine Kette mit Anhängern in der Form der Sonne. Sie trug ein körperbetontes weißes Gewand mit einer roten Schärpe um den Bauch. Ihre Handgelenke waren mit goldenen Armreifen geschmückt, an den Fingern trug sie eine Vielzahl von Ringen.
Chloé fand die Frau wunderschön, wenn da nicht die bleiche, durchscheinende Haut gewesen wäre. Als die Unbekannte den Mund öffnete, entfloh anstatt Worten nur eiskalte Luft ihren Lungen.
Plötzlich hörte sie ein weiteres Geräusch!
Schnell riss sie ihren Kopf herum und erkannte, wie eine weitere durchscheinende Gestalt durch die Wand trat. Erschrocken starrte Chloé in zwei feurig glühende Augen. Panisch holte sie Luft und schrie, wie sie noch nie in ihrem Leben geschrien hatte.
Doch es kam kein Laut über ihre Lippen!
Die Gestalt war in Windeseile zum Bett geflogen und hatte Chloé eine unsichtbare Hand auf den Mund gelegt und dadurch den Schrei vollkommen erstickt. Die Hand schien aus reinen Nebelschwaden zu bestehen, so wie der Rest des Geistes auch, der auf dem Bett über Chloé kniete. Ihre Wangen blähten sich mehrfach auf, doch sie bekam keinen Ton heraus. Obwohl sie die Hand kaum auf den Lippen spürte, wurde sie unerbittlich auf das Bett hinabgedrückt.
Sie konnte sich nicht rühren, ganz so, als wenn der Geist sie zwar nicht physisch festhielt, aber doch auf eine andere, mentale Art unter Kontrolle hatte. Mit angstvoll aufgerissenen Augen sah sie, dass die Erscheinung wie der verwesende Leichnam einer jungen Frau mit langen schwarzen Haaren aussah, dessen Knochen und Sehnen deutlich durch die fahle, fast durchsichtige Haut schimmerten. An der körperlosen Gestalt hingen Kleiderfetzen, die sehr alt zu sein schienen und ebenfalls nur aus Nebelschwaden bestanden. Chloé glaubte, Seetang an den Haaren der Frau zu erkennen und Salzwasser zu riechen. Schmerzhaft keuchte sie, da die Berührungen des Geistes eine Grabeskälte ausstrahlten, die schlimmer brannte als das heißeste Feuer.
Sie drehte ihren Kopf angstvoll zur Seite und sah direkt in das Gesicht einer anderen jungen schwarzhaarigen Frau, die ein weißes Nachthemd trug. Die mittlerweile dritte Erscheinung hatte ein abgeschnittenes Seil mit einem Henkersknoten um den Hals. Die Augen waren traurig, ihre Züge versteinert und in einer Maske des Todes erstarrt.
Chloé schrie auf, rutschte in ihrem Bett nach hinten und lehnte sich zitternd an die Wand. Es lag ein Knistern in der Luft, die Augen der drei Wesen betrachteten sie flehend.
Geister, ging es Chloé durch den Kopf.
Das sind Geister!
Aber wieso zum Teufel sind sie hier?, überlegte sie verängstigt. Was wollen diese unheimlichen Wesen von mir?
Die junge Frau, der Chloé als Erstes in die Augen geblickt hatte und die wie eine Prinzessin aussah, betrachtete sie mit einem verständnisvollen Blick. Dann ergriff sie mit ihren schlanken Fingern das kleine Kästchen, das Chloé vor wenigen Tagen mit Henri in der alten Villa gekauft hatte. Die geisterhafte Prinzessin öffnete den Deckel des Kästchens und nahm den Lederbeutel heraus. Sie stand auf, schwebte auf das Bett zu und kniete sich direkt vor Chloé.
Sie wurde von allen drei Seiten umringt. Vor Chloé kniete die tote Prinzessin mit dem vielen Schmuck. Rechts neben dem Bett stand die Erscheinung mit dem Seil um den Hals und links neben ihr saß die dunkelhaarige Frau mit dem Seetang im Haar.
Der Geist vor ihr öffnete den Lederbeutel und holte den gelbgestreiften Kristallstein mit der silbernen Kette hervor. Langsam, fast zärtlich, streifte sie den Schmuck über Chloés Kopf.
„Hilf uns! Bitte! Befreie uns aus dem Zwischenreich“, hauchten alle drei Erscheinungen fast synchron. Ihre hohl klingenden Stimmen wirkten, als würden sie aus der allertiefsten Gruft stammen.
Die drei Geisterfrauen nickten gleichzeitig mit ihren Köpfen. Ihre Konturen waren weicher geworden, die Umrisse verschmolzen mit den Schatten des Zimmers. Die Haut der Erscheinungen wurde immer durchsichtiger.
Sie verschwinden wieder, dachte Chloé. Ja, sie verblassen mehr und mehr. Aber woher kamen sie so plötzlich und wohin gehen sie?
Langsam zerflossen die drei geisthaften Erscheinungen. Nach wenigen Augenblicken war Chloé allein in ihrem Zimmer.
Wenig später schaltete sie die Lampe aus. Sie lauschte noch eine Weile auf ein neues Geräusch, wartete, ob sich in ihrem Zimmer etwas bewegte. Aber es blieb alles ruhig, sodass sie schließlich wieder einschlief.
Der Wecker klingelte und kündigte einen neuen Tag an. Chloé stellte ihn ab und seufzte erleichtert, als das schrille Geräusch endlich aufhörte. Sie hasste das morgendliche Aufstehen und hatte immer Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Warum konnte die Schule nicht zu einer vernünftigen Zeit anfangen, so um neun oder zehn? Oder gar nicht!
Sie gähnte, dann machte sie endlich die Augen auf. Ein paar Minuten starrte sie gedankenverloren an die Decke. Das tat sie jeden Morgen. Sie liebte es, langsam aufzuwachen und ihre Kräfte zu sammeln, bevor sie endgültig aufstand. Aber an diesem Morgen fühlte sie etwas anderes.
Sie spürte einen merkwürdigen Druck am Hals und etwas Warmes schien oberhalb ihrer Brust zu liegen. Sie wollte mit der Hand danach greifen, aber sie hatte keinen Mut. Sie wusste, was sie erwartete.
Schließlich fasste sie doch an ihren Hals und ihre Angst bestätigte sich.
Sie trug die Halskette mit dem gelbgestreiften Mineralstein, die eigentlich in einem Lederbeutel in der kleinen Holzkiste liegen sollte!
Es war kein Alptraum gewesen! Die Geisterfrau hatte ihr in der vergangenen Nacht die Kette um den Hals gelegt.
Aber warum?
Die Menge schrie!
Auf der Anzeigentafel im Stadion des SC Fürstenfeldbruck stand in großen Zahlen ein 2:1. Mit diesem Ergebnis könnte die Heimmannschaft den Abstieg aus der Bayernliga Süd vermeiden. Der Sieg war notwendig. Der FC Affing, heutiger Gegner, hatte auf Platz 11 bereits einen gesicherten Mittelfeldplatz.
Das Fußballspiel sollte nur noch wenige Augenblicke dauern. Die Zuschauer im Stadion feuerten ihre Mannschaft an und ersehnten sich den Schlusspfiff. Plötzlich wurde es noch lauter. Ein Spieler des FC Affing hatte den Ball bekommen und lief so schnell er konnte über den rechten Flügel in Richtung Strafraum. Henri, der Linksverteidiger der Heimmannschaft, lief direkt neben dem Angreifer. Er wollte durch ein Foul keinen Freistoß riskieren und versuchte, seinen Gegenspieler abzudrängen. Der Stürmer schlug einen wendigen Haken und drang mit dem Ball am Fuß in den Strafraum ein. Henri überlegte gerade, ob er von der Seite grätschen sollte, um den Ball zur Ecke zu klären.
Plötzlich ging ein lauter Aufschrei durch die Zuschauer, als der gegnerische Angreifer stolperte und fiel. Henri hob überrascht die Hände, der Ball kullerte kraftlos in die Arme des Torhüters. Sofort ertönte der Pfiff des Schiedsrichters.
„Was soll das denn?“, schimpfte Henri laut. „Das war eine Schwalbe!“
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