„Genau, warum nicht.“
Die Tür zum Keller stand offen, als wollte sie jeden einladen, die Schätze zu entdecken, die dort unten aufgestapelt waren. Zu Chloés und Henris Erleichterung war der Keller hell erleuchtet. Als sie die lange Holztreppe runtergingen, trafen sie einen Mann, der gerade wieder heraufkam. „Alles nur Trödel“, murmelte er enttäuscht und verschwand.
Unten im Keller war niemand außer ihnen. Chloé bemerkte sofort den unangenehmen Geruch, der ihnen entgegenschlug. Es war eine Mischung aus Schimmel, feuchten Wänden und Mottenkugeln. Sie war drauf und dran, umzukehren und wieder nach oben zu gehen, als ihr Blick auf die vollgestopften Kisten fiel, die überall herumstanden.
„Mit dem ganzen Kram könnten wir Tage zubringen“, schimpfte Henri. „Und gar keine Särge, wie vermutet.“
„Hör auf zu nörgeln und hilf mir lieber. Ich habe mit den Kisten ein gutes Gefühl.“
Die beiden fingen an, in den Kisten herumzustöbern. Dann pfiff Henri plötzlich begeistert durch die Zähne. „Mann oh Mann!“
„Was ist los? Hast du etwas Tolles gefunden?“
„Eintrittskarten!“ Er hielt ihr kleine Papiere vor die Nase. „Sieh nur, die sind von der Weltmeisterschaft 1954 in der Schweiz. Vielleicht sind das sogar Eintrittskarten vom Finale.“
„Für was für einen Sport denn?“
„Hä?“
„Was haben die in der Schweiz gemacht?“, wiederhole Chloé ihre Frage.
„Na, Fußball! Deutschland wurde dort Weltmeister!“
„Ach so. Aber das interessiert doch niemanden. Ich dachte, du hättest etwas Spannendes gefunden.“
„Du hast doch keine Ahnung“, antwortete Henri kopfschüttelnd, schob die Tickets ein und beschloss, diese zu kaufen.
Chloé wandte ihre Aufmerksamkeit wieder einer Puppe zu, die sie in einer Kiste gefunden hatte. Das Kleid der Puppe war alt und schmutzig, aber sonst war sie in einem guten Zustand. Sie könnte sie säubern und ihr ein neues Kleid anziehen.
„Was meinst du, was die Eigentümerin für diese Puppe haben will?“
Chloé sah zu der Stelle hin, wo Henri eben noch mit den Eintrittskarten gestanden hatte.
Er war verschwunden!
„Henri?“
Es blieb still. Sie legte die Puppe zurück und sah sich suchend um. Warum war Henri so plötzlich nicht mehr da? Wollte er ihr aus Spaß ein bisschen Angst einjagen? Oder war er nur ungeduldig geworden und wartete draußen auf sie?
„Henri!“, rief sie noch mal, diesmal mit lauterer Stimme. Ihr Herz klopfte wild, dann hörte sie: „Hier, huhu.“
Chloé stieß einen erleichterten Seufzer aus. „Du hast mir einen ganz schönen Schrecken eingejagt!“
„Entschuldige. Hey, schau mal die vielen tollen Sachen in diesem alten Schreibtisch.“
Chloé folgte dem Klang seiner Stimme, weil sie immer noch nicht sehen konnte, wo er war. Sie musste über Kisten klettern und geriet mit dem Kopf in ein riesiges Spinnennetz.
„Ihgitt, wie eklig!“ Sie schüttelte sich, als sie die klebrigen Spinnweben von Nase und Stirn abwischte. Aus den Augenwinkeln konnte sie etwas über den Boden huschen sehen. Eine Maus? Eine Ratte? Sie musste sich wieder vor Ekel schütteln. Am liebsten wäre sie fluchtartig nach oben gelaufen. Endlich fand sie Henri, der in den Schubladen eines alten Schreibtisches herumwühlte.
„Du findest noch mehr als ich“, neckte ihn Chloé. Ihr Tonfall erinnerte ihn daran, dass er es war, der zuerst nicht in dieses Haus kommen wollte.
„Ja, ich finde eine ganze Menge Sachen, die ich gerne haben möchte, aber außer den Tickets werde ich nichts kaufen. Kann ich mir nicht leisten“, sagte er traurig. „Ich muss immer noch das Geld für meinen Führerschein abbezahlen.“
Er schloss die Schublade und sah sich dann weiter im Keller um.
„Eine ganze Menge alter Kram hier, findest du nicht?“
Bevor Chloé antworten konnte, hatte er wieder etwas Interessantes entdeckt und ging direkt darauf zu. Es war ein alter Holzschrank mit Schnitzereien an den Türen.
„Du scheinst gerne alles mögliche öffnen zu wollen“, bemerkte Chloé, als Henri die Hand nach der Schranktür ausstreckte.
„Du meinst, außer der Kleidung an deinem Körper?“
„Blödmann“, grinste Chloé als Antwort.
„Aber ich bin eben neugierig“, erwiderte er und öffnete den Schrank.
Ein merkwürdiger Geruch strömte ihnen entgegen, sodass beide einen Schritt zurücksprangen. Aber im nächsten Augenblick war der Gestank verschwunden.
„Ich glaube, da hat jemand etwas vergammeln lassen“, meinte Henri und ging wieder näher an den Schrank heran, um einen Blick hineinzuwerfen. Er sah dort alte Farbdosen, Pinsel, Blumentöpfe aus Ton und viele andere Dinge. Henri wühlte zwischen den Töpfen herum und stieß dabei einen rostigen Schraubenzieher und eine alte Kaffeebüchse um.
„Mist, alles nur Abfall hier drin!“
Der Blick von Chloé fiel auf das unterste Regal. Dort stand ein hölzerner Kasten mit eleganten Schnitzereien an den Seiten. Sie beugte sich näher heran, bis sie Einzelheiten erkennen konnte. Zuerst dachte sie, es wären Darstellungen von Engeln, aber bei näherem Hinsehen stellte sie fest, dass es Dämonen mit kleinen Flügeln waren. Außerdem befanden sich Schriftzüge auf dem Deckel, die aussahen wie altägyptische Hieroglyphen.
„Was ist denn das?“ Sie streckte die Hand nach dem Kästchen aus.
Als sie es in der Hand hielt, war sie überrascht, wie schwer es war. Das schwarze Holz schien massiv zu sein und war wahrscheinlich sehr teuer. Dann sah sie die sorgfältig ausgeführten Schnitzereien näher an. Unheimlich aussehende kleine Dämonen, mit grässlichen Fratzen, tanzten um den ganzen Kasten herum, hielten sich an den klauenartigen Händen und bildeten einen geschlossenen Kreis. Die einzelnen Figuren waren extrem fein geschnitzt, sogar die Haarstränge auf den pelzigen Körpern und Köpfen konnte man unterscheiden.
„Phantastisch!“, rief Chloé begeistert aus.
„Wie bitte? Ich finde den Kasten scheußlich!“, erklärte Henri.
„Weil du keine Ahnung von Kunst hast.“
„Das kann sein, aber ich habe ein ungutes Gefühl bei dem Kasten. Du solltest ihn schnell wieder zurück in den Schrank legen.“
Statt etwas zu erwidern, schüttelte sie den Kasten leicht und hörte ein Klappern im Innern. „Da ist etwas drin.“ Dann schüttelte sie den Kasten noch mal.
„Mach ihn doch auf.“
Chloé drehte den Kasten um. An einer Seite fand sie ein Schloss unter dem Deckel. Sie versuchte, ihn zu öffnen, aber er rührte sich nicht.
„Ich brauche einen Schlüssel.“
„Vielleicht können wir das Schloss aufbrechen.“
„Vielleicht sollte ich den Kasten kaufen“, schlug Chloé zu ihrer eigenen Überraschung vor.
Henri sah sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Warum willst du das Ding kaufen?“
„Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich finde es einfach hübsch, es würde sicher toll auf meinem Schreibtisch aussehen.“
„Aber du weißt doch gar nicht, was da drinnen ist.“
„Das brauche ich auch nicht zu wissen. Ich schmeiße den Inhalt weg und benutzte das Kästchen für andere Dinge.“
Henri zog eine Grimasse. „Mädchen mit ihren Ideen!“, seufzte er. Dann wurde er wieder ernst und sah sich zusammen mit Chloé den Holzkasten an.
„Hey! Diese kleinen Figuren sind witzig! Was sollen die darstellen? Geister? Monster?“, fragte Chloé fasziniert.
„Keine Ahnung“, antwortete Henri nachdenklich. Das Kästchen gefiel ihm nicht, es hatte eine unheimliche Ausstrahlung.
„Glaubst du, es ist irgendwie böse? Verhext?“, erkundigte sich Chloé. Sie spürte instinktiv das gleiche Unbehagen, das auch Henri empfand.
„Dann leg es wieder zurück in den Schrank.“
„Nein! Ich muss es haben“, erklärte Chloé entschlossen.
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