Schon bog der nächste Tanklaster auf die Interstate ein und das auf- und abschwellende Motorgeräusch drang aus der Ferne durch die halb geöffneten Fenster herein. Irgendein lockeres Blech schepperte an dem Fahrzeug. Weit vor der Stadt leuchtete es über den alten Ölfeldern kurz rötlich auf, wie von einem fernen Gewitter. Jeff drehte sich wieder auf die andere Seite und schlief weiter.
Bislang war Jeffrey O´Bannion nicht sehr vom Leben verwöhnt worden. Mit seinen siebzehn Jahren war er mit der Familie zusammen schon viermal umgezogen, was für ein Soldatenkind eigentlich noch ziemlich wenig ist. In den verschiedenen Schulen, die er in Andrews, Mannheim und Fort Worth besucht hatte, hatte er Zwölfjährige getroffen, deren Väter schon fünfmal versetzt worden waren.
Einerseits hatte Jeff dieses Leben recht interessant gefunden. Besonders die zwei Jahre in Deutschland hatten ihn sehr beeindruckt. Dass es ein Land geben könnte, in dem Baseball nahezu unbekannt war und selbst Jugendliche in aller Öffentlichkeit rauchten, ohne dass sich jemand daran störte, das hatte er nicht vermutet. Und dann gab es da noch die Autobahnen...
Jeffs Vater hatte sich, als sie nach Deutschland gekommen waren, in einem Anfall von Leichtsinn einen gebrauchten Dreier-BMW von einem Kameraden gekauft, der in die Staaten zurückging. Eines Nachmittags, Jeff war mit seinem Vater unterwegs gewesen, um ein paar Besorgungen zu machen, waren die beiden auf die Idee gekommen, mal auszuprobieren, was der Wagen so leistete. Kurz entschlossen war Jeffs Dad auf die Autobahn Richtung Heidelberg eingebogen und hatte Vollgas gegeben. Niemals im Leben würde Jeff den Stolz vergessen, als der Wagen nach einigem Anlauf auf der schnurgeraden Strecke die unglaubliche Geschwindigkeit von über hundertachtzig Stundenkilometern erreichte. Mit voll durchgetretenem Gaspedal hatten sie alle anderen Fahrzeuge überholt und weit hinter sich gelassen. – Mehr als hundertzehn Meilen in der Stunde! Jeff und sein Dad hatten sich in diesem Augenblick wie die Könige der Autobahn - ach was - wie die Könige der Welt – gefühlt, bis plötzlich ein mit Bauarbeitern besetzter und mit Farbkübeln und einer Aluleiter auf dem Dach beladener Omega-Kombi lässig an ihnen vorbeigezischt war.
Die Rückfahrt war dann wesentlich langsamer und recht schweigsam verlaufen. Erst kurz vor Mannheim war es Jeffs Dad dann eingefallen, dass Opel ja zum General-Motors-Konzern gehörte und es deswegen ja eigentlich ein amerikanischer Wagen gewesen war, der sie überholt hatte. - Wenigstens ein kleiner Trost!
Jeffs Mutter und Shereen hatten übrigens nichts von dieser Eskapade erfahren. In stillschweigender Übereinkunft hatten Jeff und sein Dad niemals etwas davon erzählt. Die beiden Frauen hielten nämlich alles, was über das in den Staaten übliche Speed-Limit von fünfundfünfzig Meilen hinausging, für glatten Selbstmord.
Der BMW war nach der Versetzung des Vaters nach Fort Worth in Deutschland zurückgeblieben und als Danny und Paddy geboren wurden, war mit den kleinen, sportlichen Autos sowieso Schluss gewesen. Jetzt waren Familienkutschen angesagt, und Jeffs Mom hatte einen Mitsubishi-Minivan bekommen. Von seiner Abfindung, die er von der Army erhalten hatte, hatte Jeffs Dad sich dann einen Chevy-Suburban gekauft. Ein Wal von einem Auto, aber mit reichlich Platz für alle.
Die letzte Station des unruhigen Soldatenlebens war also Fort Worth gewesen, und Jeff hatte die leise Hoffnung, hier in Moulder vielleicht einmal Freunde zu finden, von denen er sich nicht schon bald wieder trennen musste. Sein Vater hatte jetzt einen sehr gut bezahlten Job beim Werksschutz der ‚Moulder-Oil-Company‘, und es sah so aus, als könne die Familie hier endlich einmal so etwas wie Wurzeln entwickeln.
Was Jeff anging, so hatte das bislang aber noch nicht so gut geklappt. In seinem bisherigen Leben war er immer und überall der Neue und der Fremde gewesen, sodass er aus dieser Rolle auch jetzt nicht so leicht herausfinden konnte. Er litt nicht wirklich darunter; es war nur so, dass er im Umgang mit seinen Altersgenossen immer noch eine gewisse Distanz wahrte, und das kam hier in Moulder nicht so gut an. So beschränkten sich Jeffs Kontakte auf zufällige Treffs in Hamburgerbuden und Milchbars und auf seltene private Besuche, aber eine richtige Freundschaft hatte sich daraus bislang nicht entwickelt.
Das Leben in Moulder-City kam Jeff sowieso seltsam vor: Es gab hier viele, die, wie die O´Bannions, von außerhalb hierhergezogen waren. Eigentlich war Moulder bis vor ein paar Monaten eine ebenso sterbende Stadt gewesen, wie alle Gemeinden hier in der Gegend. Der ganze Reichtum der Gegend hier war dem Erdöl zu verdanken gewesen. Von Jahr zu Jahr war die Fördermenge jedoch gesunken, und niemand, der ein wenig vom Ölgeschäft verstand, machte sich Illusionen darüber, woran das lag: Die Vorkommen unter dieser Region von Texas waren völlig erschöpft, und die ehemals reichen Städte verödeten nach und nach. Die Facharbeiter waren in Scharen fortgezogen, um woanders Arbeit zu finden und viele Geschäfte hatten schließen müssen, weil nach und nach die Kundschaft ausgeblieben war.
Auch Moulder-City hatte kein Geld mehr gehabt und selbst dringend notwendige Reparaturen waren vom Rat der Stadt aus finanzieller Not auf die lange Bank geschoben worden. Viele Häuser hatten leer gestanden und Moulder war langsam zur Geisterstadt geworden.
Draußen, im weiten Weideland, hatte es nicht besser ausgesehen: Die alten Bohrlöcher und Pipelines waren verfallen, und so manche Erdölraffinerie rostete in den Weiten des Graslandes still vor sich hin, bis vielleicht einmal die Demontagetrupps kamen und allen verwertbaren Schrott abholten.
In diese allgemeine Stimmung des schleichenden Untergangs hinein war die Nachricht, dass die Moulder-Oil-Company ein neues, reichhaltiges Vorkommen entdeckt hatte, wie eine Bombe eingeschlagen. Die Fachleute meinten zwar, dass auch diese Quelle nach wenigen Wochen versiegen würde, aber das war nicht so. Tag und Nacht wurden Millionen von Barrels besten Rohöls durch die Pipelines in die neu erbaute Raffinerie der Moulder-Oil-Company gepumpt, und Güterzüge und Tanklaster verteilten den wertvollen Treibstoff über das ganze Land.
Das wertvolle Öl sprudelte nun schon seit Monaten, und der ‚M.O.C.‘ gelang es sogar, ihre Fördermenge von Woche zu Woche zu steigern. Ganz gleich, was die Fachleute meinten: die M.O.C. stellte Arbeitskräfte ein und die Menschen kamen von weither, um sich ihren Anteil am unverhofften Reichtum zu sichern.
So war auch Jeffs Familie hierhergeraten; mitten hinein in den neuen Ölboom von Moulder. Alles sah sehr gut aus: Die Stadt blühte gewissermaßen über Nacht zu neuem Leben auf. Die M.O.C. zahlte gut. Die Häuser der Angestellten waren gepflegt und geräumig, auf den Straßen der Stadt wurde der Asphalt ausgebessert und nirgendwo sonst in der Region sah man so viele neue, große und teure Autos auf den Parkplätzen der Supermärkte.
Alle Geschäfte der Stadt, vom Drugstore bis zum Klempner, lebten vor allem von dem Geld, das die Moulder-Oil an ihre mehr als zweitausend Angestellten auszahlte, und solange alles glatt lief, fragte niemand danach, wie so etwas möglich war.
Es sah wirklich so aus, als würde es mit Moulder-City für viele Jahre nur noch bergauf gehen, denn noch ahnte niemand, dass der neue Reichtum nur darauf beruhte, dass die M.O.C. das Tor zur Hölle aufgestoßen hatte - und es nicht wieder zu schließen vermochte.
DONNERSTAG, 04:30 PM
DAS INSEKT
Der dunkelgrüne Chevy Suburban bog in einem weiten Bogen in die Straße ein und Jeff nahm seine Schultasche vom Bürgersteig auf. Eigentlich hätte er schon lange zu Hause sein können, aber heute Morgen war sein alter Honda-Scooter nicht angesprungen und er hatte sich von seiner Mutter zur Schule bringen lassen.
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