Der Arzt mochte in seine eigene Stimme und in seltsame Rätselspiele verliebt sein, aber er hatte in seinem Leben wohl schon genug mit Iren zu tun gehabt, und er war nicht dumm genug, sich mit einer O´Bannion anzulegen, die sich Sorgen um ihren Vater macht. Also entschloss er sich, endlich sein Wissen preiszugeben - aber nicht, ohne sich doch noch schnell einen kleinen Umweg zu genehmigen:
"Ich werde in dieser Sache auch das Büro des Sheriffs einschalten", stellte er fest und sah Shereen und Jeff ernst an "Ich lasse mich nämlich nicht gerne belügen", fuhr er fort. "Und ich würde doch zu gerne wissen, was Ihrem Vater wirklich zugestoßen ist! Wenn die Kleidung Ihres Vaters nass oder wenigstens feucht gewesen wäre, dann würde ich sagen, er sei in ein Haifischbecken gefallen. Aber so, wie die Dinge liegen, ist mir die Sache ein absolutes Rätsel!"
FREITAG, 06:32 PM
SHERIFF
"Haifische!" Shereen stieß das Wort halb belustigt, halb ärgerlich heraus. Sie ließ den Nova den Highway entlang rollen, hielt das Lenkrad fest umklammert und starrte geradeaus durch die Windschutzscheibe.
Sie und Jeff hatten sich nach der überraschenden Eröffnung des Arztes noch ein paar Minuten lang mit ihm unterhalten, aber es war nichts dabei zutage getreten, was dessen abenteuerliche These hätte stützen können. Auch wenn die Bissspuren wegen der vielen, hintereinander angeordneten Zahnreihen eindeutig auf einen Hai hinwiesen, so war doch die Kleidung von Steve O´Bannion absolut trocken und mit Blut verkrustet gewesen. Wenn er also von einem Hai gebissen worden wäre, dann hätte das auf trockenem Land geschehen sein müssen.
Das war nun aber schwer vorstellbar, dass sich ein Wachmann auf dem Weg zum Dienst, ausgerüstet mit Schlagstock, Pfefferspray, Bowiemesser und einem geladenen 44er Coltrevolver einem Hai, der vielleicht von einem Lastwagen gefallen war, so weit näherte, dass der ihn mehrfach beißen konnte. Schwer vorzustellen vor allem bei Steve O´Bannion, der bei der Militärpolizei der US-Army gewesen war.
"Der ist doch verrückt!", schimpfte Shereen weiter auf Doktor Doukakis. "Ein Hai! Ha! Und wo soll der geblieben sein, bitte? Weggelaufen, oder was?"
Jeff vermutete, dass ihr das Geglotze des Arztes ziemlich peinlich gewesen war und sie jetzt ein Ventil brauchte, um Dampf abzulassen.
"Ach, der Doc wollte dich doch bloß mit seiner Key-West-Story beeindrucken!", meinte er. "Weiß ja auch nicht, was der an dir findet, aber du schienst ihm zu gefallen."
"Na, toll!", schnaubte Shereen. "Ist mir auch aufgefallen. Dann hab ich jetzt wohl ´nen Verehrer, dem die Haare schon aus Nase und Ohren wachsen. - Mann, das macht mich echt stolz!"
"Ältere Männer lieben junge Frauen!", grinste Jeff.
"Bääh!", machte Shereen und Jeff staunte, wie lang sie dabei ihre Zunge herausstrecken konnte. "Ältere Männer lieben vor allem das eigene Gefasel!", stellte sie dann fest. “Wenn der Typ glaubt, dass mich sein onkelhaftes Arzt-Gerede beeindruckt, dann irrt er sich gewaltig! - Schön, er weiß ´ne ganze Menge, und er hat Dad gerettet, aber wie er selbst gesagt hat, macht er nur seinen Job. Und wenn er uns weismachen will, dass Dad mitten im Weideland von einem Hai angegriffen wurde und dabei immerzu auf meinen Bauch starrt, dann macht er ihn verdammt schlecht! - Ende der Durchsage!"
“Ist ja gut! Komm wieder runter!” Jeff schaute aus dem Seitenfenster und hielt ein paar Minuten lang den Mund, um seiner Schwester Gelegenheit zu geben, sich wieder zu beruhigen.
Im Krankenhaus hatten Jeff und Shereen noch mit ihrer Mutter gesprochen. Sie hatte auf jeden Fall noch bei ihrem Mann bleiben wollen und sich für die Nacht schon ein Zimmer in einem kleinen Hotel in der Nähe reservieren lassen. Also waren Jeff und Shereen dann auch bald mit dem Nova in Richtung Moulder gestartet, um die Zwillinge von der Nachbarin abzuholen, die sie netterweise genommen hatte. Vorher mussten sie aber noch kurz beim Sheriff von Moulder vorbei, den der Arzt noch in ihrem Beisein angerufen hatte.
Im Büro des Sheriffs dauerte es einen Moment, bis sie zum Chief vorgelassen wurden und Jeff sah sich ein wenig um. Drei Schreibtische standen in dem großen Raum und einer davon war im Moment besetzt. Ein kleiner Mann mit einer Halbglatze mühte sich mit einem hohen Aktenstapel ab. Er legte die einzelnen Blätter nach einem bestimmten System in Ablagekästen, die vor ihm standen, wobei er alle Anzeichen der Unlust zeigte. ‚Deputy T. F. Harris‘ stand auf dem Schild auf seinem Schreibtisch.
Jeff wandte seine Aufmerksamkeit einem großformatigen Schwarzweißfoto an der Wand zu, auf dem drei Männer vor dem Hintergrund etlicher Öltürme zu erkennen waren. Ihre Kleidung war altmodisch, sie trugen gewaltige Cowboyhüte und lehnten an einer dunklen Limousine mit geschwungenen Kotflügeln und verchromten Suchscheinwerfern neben der langen, schmalen Motorhaube. ‚Sheriff Dwight Harris und die Deputys Blank und Foster 1937‘ stand unter dem Bild.
“Mein Großvater!” Deputy Harris hatte Jeffs Blick bemerkt und zeigte auf die Fotografie. “Hat den Laden hier damals geschmissen, als der Ölboom richtig losging!”
“Muss ´ne heiße Zeit gewesen sein!” Jeff verglich schnell die Gesichter, konnte aber keine Ähnlichkeit feststellen.
“Vergiss den Wilden Westen!”, meinte der Deputy prahlerisch. “Das hier war die wirklich heiße Zeit!”
Wenn Jeff sich so ansah, wie auffällig tief der Sheriff auf dem Bild seinen Colt an der Hüfte trug, war er geneigt, das zu glauben – und die Schrotflinten seiner Begleiter waren bestimmt auch nicht nur zur Zierde da gewesen.
“Die Wochenenden waren die Hölle!”, sagte der Deputy, als sei er selbst dabei gewesen. Hunderte von Ölarbeitern, alle mit reichlich Geld in der Tasche, fast alle betrunken, fast alle bewaffnet – da ging´s ab, das kannste glauben!”
“War bestimmt ´n harter Job!”
“Harter Job?” Der Deputy sah Jeff missbilligend an. “Ein Selbstmordkommando war´s! Eine Woche, nachdem dieses Foto gemacht worden ist, hat so ein Irrer ihm die Halsschlagader mit ´ner zerbrochenen Whiskeyflasche aufgeschlitzt.”
“Tot?”, wollte Jeff wissen, aber da öffnete sich eine Tür an der Seite des Büros und der Deputy gab keine Antwort mehr.
Sheriff Freeman Duran war ein Südstaatenpolizist wie aus dem Bilderbuch, mit der einzigen Ausnahme, dass er ganz offensichtlich von den amerikanischen Ureinwohnern abstammte. Ansonsten stimmte alles: Er war Mitte dreißig, einen guten Kopf größer als Jeff, schlank aber muskulös und seine markanten Gesichtszüge verrieten jedem, dass es nicht ratsam war, sich mit ihm anzulegen. Die tiefschwarzen Haare waren millimeterkurz geschnitten und das sandfarbene Uniformhemd sah so glatt aus, als habe er es erst vor einer halben Stunde aus dem Schrank geholt. Die makellose Bügelfalte seiner Hose stieß auf blankgeputzte Schuhe, die so strahlten, dass es den Augen wehtat.
‚Mindestens fünf Jahre Armydrill‘, schätzte Jeff. ‚Zeugpflege sehr gut! - Aber jetzt ist er ein Büropolizist, der seinen Hintern den ganzen Tag lang vor die Klimaanlage hält!‘
“Sorry, dass ich Sie beide heute noch bemühe.” Sheriff Duran geleitete seine Besucher zu zwei Stühlen. “Aber ich fahre morgen früh Streife und bin den ganzen Vormittag lang weg.”
‚Tja, so kann man sich täuschen!‘, stellte Jeff still für sich fest und leistete dem Mann in Gedanken Abbitte.
“Weswegen ich Sie hergebeten habe” fuhr der Sheriff fort. “Ich brauche von Ihnen alle Auskünfte, die Sie mir über die Arbeit Ihres Vaters bei der Moulder-Oil geben können.”
“Viel wird das nicht sein”, meinte Shereen. “Über seine Arbeit hat er zu Hause nicht viel gesprochen.”
“Was hat er denn alles so erzählt?”
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