1 ...6 7 8 10 11 12 ...21 Die Seherin hatte glasige Augen, als sie flüsternd fortfuhr: »Es ist Jamils eigener Geist, der zu einem Dämon geworden ist. Er ist verflucht, ein ruheloses Ungetüm aus der Anderwelt, das sich seines früheren Körpers bemächtigt hat.«
Navenne erschlaffte in den Händen ihrer Begleiter und ein Raunen wurde laut. Aldo wurde bewusst, dass alle ihnen zum Strand gefolgt waren.
Er drehte sich langsam um und sah, wie mehrere Frauen zu Navenne eilten. »Sie ist ohnmächtig«, stellte ihre Freundin Marifa fest und das Murmeln wurde lauter. »Bringt sie zu den Zelten, sie braucht Ruhe und kühles Wasser. Macht schon!«
Sie scheuchte die anderen aus dem Weg, als man Navenne forttrug, und eine Traube Frauen und Kinder folgte ihnen. Die Männer blieben am Strand und warteten auf Aldos Befehle … doch der fühlte sich nur hilflos und leer.
Yesima sprang für ihn ein. »Wir müssen Wachen aufstellen und ich werde Schutzrituale durchführen, um unsere Siedlung vor seinem bösen Geist zu bewahren.«
Aldo wollte es nicht glauben und ging unwillkürlich auf Jamil zu. Die Seherin versperrte ihm den Weg und fixierte ihn mit ihren trüben, alten Augen. Die Gewissheit in ihrem Blick ließ ihn innerlich erzittern und entfachte eine unglaubliche Wut über seine Ohnmacht.
»Das ist mein Sohn! Das ist Jamil!«, widersprach er und wusste dabei selbst, wie hilflos er klang.
Die alte Frau sah ihn mitleidig an und umfasste seine Hand. »Es tut mir aufrichtig leid, mein Rätor. Die Zeichen sind eindeutig. Sein Blick ist gebrochen und kein Mensch könnte solche Verletzungen überleben. Er hat sich bei dem Sturz alle Knochen gebrochen. Er ist bereits über die Schwelle des Todes getreten.«
»Das kann nicht sein! Du sagtest, unsere Ankunft hier stünde unter einem guten Stern!«
»Ich habe so etwas befürchtet. Die Götter wollten ein Opfer für ihren Schutz und Segen. Wir dürfen ihre Wahl nicht in Frage stellen.«
»Aber das …«
Aldo wollte ihr nicht glauben. Dieses Schicksal war schlimmer als der Tod selbst – und es würde ihnen allen verbieten, um ihn zu trauern. Er kannte die Regeln der Seherinnen, die ihre Stadt früher vor den bösen Todesgeistern beschützt hatten.
Wie konnten die Götter ihn und seine Familie so strafen? Sie hatten alles versucht, um die Stadt vor ihren Angreifern zu verteidigen … und das war der Dank für die Rettung all dieser Menschen? Aldo hatte doch nicht ahnen können, dass die Verlobung von Jamil und Lezana solche Folgen haben würde! Das war nicht gerecht!
Die Seherin lächelte milde und riss ihn aus seinen verzweifelten Gedanken. »Wir müssen die Entscheidung der Götter akzeptieren … doch ich muss sie weiter befragen. Ich glaube nicht, dass sie uns einen Dämon schicken wollten. Jamil muss etwas verbrochen haben, das ihm dieses Schicksal bescherte und ihn in einen Todesgeist verwandelte. So etwas trifft einen nicht grundlos.«
»Was … was sollen wir tun?«, fragte Aldo leise, sodass die anderen hinter ihm seine Unsicherheit nicht hören konnten. Seine Gedanken zogen ihn unaufhaltsam zu der Erinnerung an die Gespräche … die Vereinbarung. Wie viele wussten davon, dass diese Verlobung vollzogen worden war? Natürlich hatten die hohen Seherinnen die Götter deswegen befragt … aber hatten alle Templerinnen davon gewusst?
Er spürte Yesimas bohrenden Blick auf sich, doch statt Sorge empfand er eine immer stärker werdende Müdigkeit. Was spielte es noch für eine Rolle? Die Stadt war verbrannt und die Zerstörer würden ihnen kaum über das Meer folgen … und die Götter hatten seinen Sohn gefordert.
Yesima räusperte sich und sprach dann etwas lauter weiter. »Den Dämon können wir nicht töten, aber solange wir ihn nicht erzürnen, kann er uns nichts tun. Vermutlich wird er es nicht schaffen, an diesem Körper festzuhalten und bald wieder verschwinden. Dann können wir Jamils Leichnam doch noch so bestatten, wie es die Götter verlangen und damit ihren Zorn besänftigen.«
Aldo nickte träge und nahm kaum wahr, wie seine Füße ihn zurück zum Lager und seiner Frau trugen. Die Seherin würde ihre Botschaft an alle verbreiten, damit niemand einen Fehler beging.
So wurde Jamil am Strand liegengelassen, als sei er ein angeschwemmtes, totes Stück Holz.
Der Schrei des kleinen Mädchens schreckte ihn am Morgen aus der Bewusstlosigkeit, doch der Schmerz, der seinen Körper erfüllte, war so groß, dass er immer wieder in wirre Träume versank.
Er sah rauschendes, dunkles Wasser, in dem immer wieder Feuer aufflackerten. Die Flammen leckten über seine Haut und starrten ihn an wie leuchtende Augen.
Die Brandung hatte seinen Körper die halbe Nacht hin und her gewälzt und gegen die scharfen Felsen geworfen, bis er schließlich von der Strömung ergriffen wurde. An den Strand gespült, blieb er zwischen den rund geschliffenen Steinen liegen.
Jamil wollte sich aufrichten und rufen, doch kein Ton kam über seine Lippen und nicht ein einziger seiner Muskeln wollte ihm gehorchen.
Alles verschwamm, bis er seine Mutter weinen und flehen hörte. Stimmen rauschten in Jamils Ohren wie Wasser, vermischten sich mit dem kreischenden Lachen der Möwen und dem knirschenden Kies.
Einmal spürte er kalte Finger auf seiner Haut, sah verschwommen den kritischen Blick der alten Seherin und ihre runzeligen, zusammengekniffenen Augen.
Seine Mutter weinte … und die Seherin murmelte etwas von einem Dämon! In dem Meer aus Schmerz wurde Jamil klar: Das war gar kein Traum. Sie waren wirklich bei ihm am Strand, doch sie halfen ihm nicht, sondern verdammten ihn.
Ihre Worte entsetzten Jamil – und besiegelten sein Schicksal. In Gedanken verfluchte er die Alte, während die Schritte sich entfernten.
Sie ließen ihn allein! Er knirschte mit den Zähnen, konnte sich aber nicht rühren. Die Pfeile steckten noch in seiner Seite und brannten wie Säure.
Die Sonne ertrank und die Mondsichel erhob sich, warf ihr mattes Licht auf die Bucht. Mit der Dunkelheit kehrte nach und nach eine angespannte Ruhe in der neuen Siedlung ein. Jamil lag noch immer unten in der Bucht im seichten Wasser, das jetzt nur noch seine Waden und Füße umspielte.
Nach einer Weile veränderte sich der Schmerz, wurde an manchen Stellen klarer.
Brüche. Der Sturz auf die hervorstehenden Felsen im Wasser musste ihm die Beine und einen Arm gebrochen haben. Auch einige Rippen brannten wie Feuer, sie fühlten sich an, als seien sie zu kleinen Splittern zerbröselt und würden sich Stück für Stück durch seine Lungen fressen.
Die Seherin glaubte also, dass ein Fluch auf ihm lag? Das hörte sich völlig wahnwitzig an … Er war doch er selbst! Er spürte jede Faser seines Körpers so real und intensiv wie nie zuvor.
Aber der Gedanke ließ ihn nicht los. Ein Fluch? Ein Dämon?
Warum war er noch am Leben? Sein Körper fühlte sich so geschunden und zerstört an, dass er sich tatsächlich fragte, wie er eigentlich noch atmen konnte.
Allerdings war für ihn klar, dass er sich eben NICHT wie ein Dämon fühlte.
Sie ließen ihn im Stich, ließen ihn leiden. Er musste sie davon überzeugen, dass er noch er selbst war!
Kalter Wind fegte über den dunklen Kiesstrand. Jamil zitterte, schließlich schaffte er es, seinen rechten Arm zu heben und sich eine Handlänge über die Steine zu ziehen. Als sich die Brüche verschoben, schoss derart heftiger Schmerz seine Seite hinab, dass er laut aufbrüllte.
Niemand kam ihm zu Hilfe, obwohl er sicherlich das ganze Lager aus dem Schlaf geschreckt hatte.
Jamil fasste all seinen Mut zusammen und zog sich noch ein Stück aus der Brandung.
Ein weiterer markerschütternder Schrei hallte über die Bucht, als die Pfeile, noch immer zwischen den Steinen verkeilt, sich verdrehten und die Wunden weiter öffneten.
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