1 ...7 8 9 11 12 13 ...21 Mit Mühe schaffte er es, den obersten Pfeilschaft zu ertasten, der anscheinend mit Seetang umwickelt war.
Warmes, dickes Blut quoll über seine Finger und erneut packte ihn eine Welle aus Schmerz, bevor er das Bewusstsein verlor.
Es waren leise, zaghafte Schritte auf dem Kies, die ihn aus seinen ersten Fieberträumen aufschrecken ließen.
Ein Zucken durchlief Jamil, als er sich der Schmerzen wieder bewusst wurde. Für einen Moment wünschte er sich zurück in den wirren, sinnlosen Traum aus Flammen und Wasser.
Aber da schlich jemand langsam über den Strand und näherte sich ihm – genau in dem Moment, als etwas an seinem Bein zerrte. Schmerz durchbrannte ihn vom Fuß bis zur Hüfte, er stöhnte auf, drehte seinen Kopf – und starrte in die glühenden Augen eines riesigen Kojoten.
Jamil schrie wütend auf und wollte einen Stein packen, um ihn nach dem Kopf des Tieres zu schleudern, doch er konnte ihn nicht anheben. Seine Finger glitten einfach kraftlos an ihm entlang, ohne ihn fassen zu können.
Der Kojote ließ sich durch das Erwachen seiner Beute nicht im Mindesten stören. Im Gegenteil, er schnupperte an Jamils Kleidung, besonders die Pfeilwunden schienen ihn zu interessieren.
Jamil ächzte, als er den schillernden Blick auf sich spürte. Nein! Er würde sich nicht lebendig fressen lassen! Wut kochte in ihm hoch und er schlug kraftlos nach dem Tier, auch wenn das eine Welle aus brennendem Schmerz durch seinen Leib jagte.
Der Kojote sprang lautlos über ihn hinweg und verschwand aus seinem Blickfeld.
Einen Moment lang wagte er zu hoffen, doch dann hörte er wieder das Schnuppern des Tieres, ehe es ein lautes, helles Heulen ausstieß, das Jamils Schrei nicht unähnlich war.
Es dauerte nicht lange, da tauchte ein zweiter Kojote aus den weiten Schatten der Bucht auf. Er verschwamm immer wieder in Jamils Blickfeld, bevor dieser erschöpft die Augen schloss.
Als er die Lider mit Mühe wieder aufschlug, kauerte der zweite Kojote vor ihm, bedrohlich an den Boden geduckt und knurrte. Plötzlich jaulte das Tier hinter ihm auf und rannte zu seinem knurrenden Gefährten, dicht gefolgt von einem größeren Schatten.
Sein Helfer jagte hinter den fliehenden Kojoten her, warf Stöcke und Steine nach ihnen; erst als weit entfernt das klagende Heulen erneut ertönte, drehte er sich um.
Hoffnung entbrannte in Jamil. Sein Bruder war von den Erkundungen zurück! Er würde ihn nicht hier liegen lassen. Er würde sich über das Gebot der Seherin hinwegsetzen und – da kam die breite Mondsichel hinter den Wolken hervor und tauchte die Person in mattes Licht.
Erstaunen und Enttäuschung kämpften in ihm, als sich das fremde Mädchen vor ihm in die Hocke sinken ließ. Ihre Augen glitzerten, während ihr Gesichtsausdruck völlig neutral blieb. Zuerst sahen sie sich nur schweigend an … dann berührte sie zaghaft seine Hand und deutete hoch auf die Klippe. Sie machte eine Bewegung, die laufen bedeuten könnte, und deutete die Wiese hinauf, die an der Klippe entlang nach oben führte.
Ihre Schönheit ließ ihn seine Schmerzen einen Augenblick vergessen. Das Licht des Mondes wurde ein wenig stärker, sie beugte sich zu ihm – und Jamil sah sich selbst in ihren Augen widergespiegelt. Er sah seinen eigenen Schmerz und ihm stockte der Atem.
Dann drehte sie seine Hand um und drückte sie flach. Er wusste nicht, was größer war: die Faszination, die er verspürte, weil sie hier bei ihm war, oder der Schmerz, der seinen Arm durchflutete, weil er bewegt wurde.
Sie nahm ein Stück Schwemmholz und hielt es vor sein Gesicht, deutete hoch auf die Klippe und dann auf seine Hand … und eine Erinnerung streifte seinen Geist. Sie wollte, dass er hinauf zu dem Baum ging. Aber warum?
Neue Hoffnung machte sich in ihm breit. Sie könnte auch zu ihrem Dorf deuten, das hinter der Klippe lag … Würde sie ihm helfen? Würde sie ihn dorthin bringen, damit man ihn rettete? Er bewegte angestrengt den Arm, schloss seine Finger um ihre Hand, doch sie riss sie rasch weg und schüttelte den Kopf.
Ich kann nichts für dich tun! , sagte ihr Blick und sie stand auf.
Nein! , dachte Jamil und Zorn brannte in ihm. Nein, so hilf mir doch!
Er wollte sie zurückhalten, verstand nicht, warum sie ihn zurückließ, doch ehe er sich erneut regen konnte, tauchte eine Wolke die Bucht in Dunkelheit und sie war fort.
Jamil wartete, hoffte.
Sie kommt wieder. Sie holt ihre Leute … Sie lässt mich hier nicht sterben! , sagte er sich immer und immer wieder, um nicht wahnsinnig zu werden.
Als die nächsten Wolken die Mondsichel mehrmals enthüllt und verdeckt hatten, kehrte sie noch immer nicht zurück – und er verfluchte sie im Stillen.
Aber ich will leben! , dachte er zornig. Ich werde leben!
Trotz beherrschte seine Gedanken, als er mit der rechten Hand anfing, den Tang langsam von den Pfeilen in seiner Seite zu lösen und sie so zu befreien. Er betastete vorsichtig die Eintrittsstellen, schloss seine Hand um den ersten Schaft in seiner Seite, doch er konnte ihn nicht herausreißen. Ein Schrei entwich seiner Kehle, als er kurz an dem Holz zog und es dann rasch wieder losließ.
Er brauchte Hilfe! Wenn dieses Mädchen sie ihm nicht gewährte, dann würde er sie sich selbst holen! Er schrie! Er brüllte nach seinem Vater, seiner Mutter, aber keiner kam. Das flache Tal über ihm blieb totenstill.
Sie haben mich alle verraten! , dachte Jamil verbittert, doch dann durchzuckte es ihn. Aber was, wenn ich es hinauf schaffe? Was, wenn ich bis vor ihr Zelt krieche, dann müssen sie erkennen, dass ich lebe und noch ich selbst bin!
Sein Vater musste ihm doch helfen, wenn er erkannte, dass sein Sohn kein Dämon war, oder? Verzweiflung breitete sich in ihm aus, ließ seinen Magen verkrampfen. So leicht konnte Aldo seinen Sohn doch nicht aufgeben!
Er streckte den gesunden Arm nach vorn, packte die Steine, grub seine Finger in den Kies und zog sich weiter. Höllenqual durchbohrte ihn, doch er bewegte die Beine, stemmte sich etwas vom Boden weg – und arbeitete sich vor. Eine Handbreit nur, aber er packte den nächsten Stein und zog sich erneut weiter.
Nach endlos langer Zeit fühlte Jamil das erste Mal Gras zwischen seinen Fingern. Seine Kehle war wund, seine Stimme versiegt, aber in seiner Qual hatte er sich immer an dem Funken festgehalten, der in seinem Willen glühte. Er wollte leben! Er wollte nicht in die Schatten, die ihn umringten und belauerten … das Gras unter seinen Fingern war so weich nach all dem Fels und Kies.
Erschöpfung machte sich in ihm breit, als er die grünen Halme berührte.
Wollte er denn wirklich noch weiter? Noch mehr Schmerz? Er lebte ja … konnte er da nicht einen Moment ruhen, das lebendige Gras genießen? Ja … schlafen, das wollte er …
Aber da fühlte er auch das Fieber, wie es ihn umhüllte. Er durfte nicht müde werden! Seine Finger krallten sich um die dunklen Halme, seine Muskeln zitterten, verkrampften sich – da berührte ihn die Wärme von weicher Haut.
Wie ein Engel stand sie über ihm. Leuchtend im Licht des Mondes … das Mädchen! Ein Lächeln zuckte über sein müdes Gesicht. Sie war zurück! Sie würde ihn in die Siedlung bringen …
Ihre Hände strichen über seine zerkratzte Haut. Ihre Finger umfassten seinen Arm, als sie ihn leicht anhob. Schmerz packte ihn, schüttelte ihn wie eine hilflose Beute, als sich sein Brustkorb bewegte. Er spürte noch, dass sie ihm unter die Schultern griff und ihn auf den Rücken drehte. Seine Sicht, seine Sinne, alles verschwamm eine Weile in Schmerz und Dunkelheit.
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