Schon bald nach der ersten Mahlzeit an Land erwachten die Lebensgeister der Gruppe. Die Kinder klaubten Steine und Muscheln zum Spielen auf und ihr Lachen erfüllte alle mit einem ersten Hoffnungsschimmer.
Obwohl der Sturm ihnen schwer zugesetzt hatte, räumten Jamil und seine Freunde noch am Nachmittag alles, was sie bei Ebbe erreichen konnten, aus dem Bauch des Schiffes.
Zuletzt musste er tauchen, fand noch einiges an Werkzeug und gab dann den Rest vorläufig auf. Farnir zog ihn aus der Luke hoch und einen Moment lang saß er nass an Deck und atmete schwer. Anschließend hielt er stolz die Säge hoch, die er unten im Wasser ertastet hatte und lachte erleichtert.
Farnir und Felik stimmten mit ein und machten sich daran, aus Brettern eine provisorische Plattform zu zimmern, auf der sie ihre Habseligkeiten treibend an Land bringen würden.
»Es liegt noch einiges unten, aber dafür müssen wir auf eine besonders niedrige Ebbe hoffen«, meinte Jamil in die Runde, als weitere Männer an Bord kamen, um Sachen aus dem Zwischendeck zu bergen.
Währenddessen konnte er vom Schiff aus sehen, dass die ersten Zelte zwischen den Hügeln aus Segeltuch improvisiert worden waren.
Jamil watete mit einem Sack voll feuchter Kleidung auf dem Kopf zurück ans Ufer und holte noch ein paar helfende Hände hinzu, da die Ebbe wohl nicht mehr lange anhalten würde.
»He! Jamil!«, brüllte Farnir ihm vom Schiff aus zu. Einige Möwen flogen kreischend davon und kreisten aufgebracht über der Bucht. »Bleib ruhig an Land, hörst du! Mach mal Pause!«
Feliks raues Lachen schallte über die Bucht und Jamil winkte den beiden dankbar zu, bevor er das Bündel zum Lager trug. Er spürte den Blick von Yesimas Tochter auf sich ruhen, als er den Stoff auseinanderschlug und sich trockene Kleidung überstreifte, ignorierte ihre neugierigen Augen aber.
Jamils Bruder und seine Jäger erlegten in der Abenddämmerung einen Hirsch, was die Seherin als gutes Omen deutete. Balor brüstete sich damit wie ein junger Gockel. Die alte Frau opferte das Herz des Tieres und bat die Götter um ihren Beistand und Schutz vor der Wildnis und bösen Dämonen, die vielleicht auch in diesen Wäldern lauerten.
Wie die Seherin waren auch die anderen Überlebenden sehr verhaftet in ihren Glauben und fürchteten, dass ihr Auftauchen in diesem fremden Land das Böse anziehen könnte.
Dennoch entging Jamil nicht, dass die meisten der Flüchtigen von tiefem Elend erfüllt waren. In der ersten Nacht fand kaum jemand Ruhe, während die dunkle Stille immer wieder vom Weinen und Schluchzen der Schiffbrüchigen unterbrochen wurde.
Es war eine überraschend laue Nacht nach dem Sturm und so lag Jamil draußen neben dem Zelt seiner Eltern und starrte hinauf in die Sterne. So viele hatte man in Kas’Tiel nie sehen können.
Er wollte seinen Bruder darauf aufmerksam machen, doch der hatte ihm abweisend den Rücken zugekehrt und schien zu schlafen.
Ein Kind weinte in der Dunkelheit, während Jamil den Nachthimmel beobachtete. Er wusste nicht, was er fühlen sollte.
War er erschüttert, weil das Erreichen dieses fremden Landstrichs besiegelte, dass sie ihre Heimat nie wieder sehen würden? Erstaunlicherweise verspürte er nur Erleichterung, bevor er endlich wegdämmerte.
Auf einem Steinplateau nahe der Bucht errichteten die Trauernden am frühen Morgen unter Anweisung der Seherin eine Gedenkstätte für ihre verlorenen Freunde und Familienmitglieder.
Danach waren sie damit beschäftigt, ihre Ausrüstung zu trocknen und weitere Zelte aus den Segeln zu errichten.
Navenne und ihre älteren Helferinnen pflegten zusammen mit der Seherin die Kranken und Verletzten, nachdem Jamil einige Frauen auf der Suche nach heilenden Kräutern begleitet hatte.
Sein Blick ruhte auf seiner Mutter, der sanften, aber auch gebieterischen Frau, die in Kas’Tiel als Schreiberin für ihren Mann ehrenvolle Arbeit geleistet hatte. In diesem Moment beschloss er, dass er alles dafür tun würde, um wieder etwas Freude und Sicherheit in ihr Leben zu bringen. Bald würden sie alle die Zeit der Entbehrung auf dem Schiff vergessen können und auch der Schmerz ihrer Verluste würde irgendwann verblassen. Hoffentlich.
Jamil schreckte aus seinen Gedanken, als sich Schritte näherten.
Balor kam mit ernster Miene auf ihn zu und hatte in typischer Manier eine Hand auf dem Jagdmesser an seinem Gürtel liegen.
»Du scheinst dich ja schon wie daheim zu fühlen«, meinte Jamil schmunzelnd und nickte zu der Waffe hin.
»Ich werde mich nie mehr irgendwo heimisch fühlen und das weißt du«, schnappte Balor zurück. »Kas’Tiel war unsere Heimat und wurde von den Grauen vernichtet.«
Jamil spürte, dass sein Bruder streiten wollte – und hier hatten sie das erste Mal seit Wochen die Möglichkeit, allein zu sein. Seufzend deutete er den Hügel hinauf. Er wollte Balor eine Gelegenheit geben, sich nach all den Strapazen etwas abzureagieren, wenn das nötig war, um seinem Bruder wieder näher zu kommen … und bei dem Anlass auch einen Blick auf die Landschaft dahinter werfen.
»Was hältst du von einem kleinen Ausflug?«
Balor brummte etwas und folgte ihm mit finsterer Miene den Hang hinauf. Kaum waren sie ein Stück vom Lager entfernt, hielt er Jamil an der Schulter zurück.
»Nur um das gleich zu klären: Vater hat mir die Verantwortung für die Jäger und Wachen übergeben. Du sollst mit ihm zusammen den Aufbau des Lagers organisieren und ich werde uns beschützen, nachdem ich die Umgebung gesichert habe. Vater will, dass ich die Wälder erkunde und nach Gefahren Ausschau halte.«
Jamil verdrehte die Augen, bevor er nickte. Es schien fast, als glaube sein Bruder, dass sie gleich von der nächsten Meute Soldaten überfallen würden, dabei war dieses Land völlig verlassen. »Du hast mein vollstes Vertrauen dabei.«
»Wirklich?«, fragte Balor bissig. »In Kas’Tiel hast du jede meiner Ideen verworfen und auf dem Schiff hast du mich herumkommandiert wie einen Lakaien!«
Jamil hob beschwichtigend die Hände. »Balor, du weißt, dass das so nicht stimmt. Ich war im Gegensatz zu dir schon auf mehreren Handelsfahrten für Vater unterwegs und kannte mich deshalb etwas besser aus. Aber das ändert nichts daran, dass wir das ohne dich nie geschafft hätten.«
Sein kleiner Bruder ballte die Fäuste. »Das hätte alles ganz anders kommen müssen bei dem Angriff.«
Jamil unterdrückte ein Seufzen. »Wir haben das schon unzählige Male durchgekaut, Balor.«
»Gut, dann weißt du ja auch, dass ich nicht von meiner Sicht abweichen werde. Vater hat fatale Entscheidungen getroffen und du auch! Du …«
Gerade als er sich in Rage reden wollte, unterbrach er sich selbst. »Riechst du das?«, fragte er mit gerunzelter Stirn.
Jamil schnupperte in den Wind. »Nein, was?«
»Das ist Rauch.«
Zuerst wollte Jamil etwas Schnippisches über ihre Lagerfeuer in der Senke erwidern, bis ihm auffiel, dass der Wind aus der anderen Richtung kam, vom Wald her, der völlig unberührt wirkte.
Sein Bruder zog das Messer und eilte den Hügel hinauf, wo ein großer, mächtiger Baum stand.
Statt einer Horde Angreifer fanden sie dort aber lediglich einen dürftigen Pfad, der zu den knorrigen Wurzeln des Baumes führte. In den tiefen Furchen der Rinde lagen kleine geschnitzte Figuren und welker Blumenschmuck.
Balor steckte langsam das Messer weg und hob eine der Götzen auf, drehte sie zwischen den Fingern und streckte sie dann Jamil hin.
»Hier in der Nähe leben Menschen. Und dem hier nach zu urteilen sind es irgendwelche Wilden, die diesen Baum verehren!«
Jamil nahm ihm die Schnitzerei ab, die eine kleine Frauengestalt mit langem Zopf darstellte. »Ich würde nicht so schnell urteilen. Wir könnten Glück haben und auf Leute treffen, die uns helfen. Wir haben viel durchgemacht und könnten Unterstützung gebrauchen.«
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