Holzstücke flogen durch die Luft, als die Geschosse durch den Wagenboden schlugen und die Brüder hinter den Streben nur um Haaresbreite verfehlten. Innerhalb weniger Augenblicke waren sie allein, umgeben von sterbenden jungen Männern und fallengelassenen Armbrüsten.
Balors Verteidigung war vernichtet, das wurde Jamil schneller bewusst als seinem jüngeren Bruder, der gerade aufsprang und einen Bolzen nachlud.
»Wir können sie nicht mehr aufhalten! Selbst wenn du im Alleingang zehn erschießt, kommen hundert neue von der Stadtmauer. Sie werden unsere lächerliche Verteidigung einfach überrennen!«, brüllte er über die Schüsse hinweg – da riss eine Explosion allen Lärm mit sich und schleuderte die beiden mit einer Druckwelle gegen den Karren. Brennendes Stroh, Holz und Ziegelsteine regneten auf die Straße, als auf der anderen Seite mehrere Häuser in einem Feuersturm auseinandergerissen wurden. Ein Balken krachte direkt neben ihnen zu Boden, Staub und Rauch verhüllten einen Moment lang die Umgebung.
Jamils Ohren klingelten und er klopfte sich hustend brennendes Stroh von den Schultern, bevor er die Trümmer eines Balkens von Balor hob. Sein Bruder war benommen, schien aber unverletzt, als Jamil ihn auf die Beine zog und einen kurzen Blick durch eines der Löcher im Karren wagte.
Die grauen Soldaten hatten sich schneller aus ihrer Starre befreit, eilten formiert die Straße entlang auf sie zu.
Eine weitere Explosion erschütterte den Grund und ließ die restlichen Fensterscheiben der sie umgebenden Häuser bersten. Balor schreckte auf und kam wieder zu sich, spannte seine Armbrust und schoss den letzten Bolzen. Die Spitze schlug in die Brust des ersten Soldaten, der gerade über den umgestürzten Wagen auf sie zusprang.
Der Angreifer brach zusammen und Rufe hallten zu ihnen, die den anderen befahlen, sich Deckung zu suchen. Scheinbar hatten sie geglaubt, dass auf ihrer Seite niemand mehr am Leben war.
»Wir müssen hier weg!«, zischte Jamil und packte Balor am Arm, doch sein Bruder riss sich los und zog dem toten Soldaten das Gewehr aus den Händen.
Er gab brüllend einen Schuss ab, der ihm die Waffe gegen die Schulter presste, und tastete dann fluchend den Toten nach Schießpulver und weiteren Kugeln ab.
»Lass das, Idiot!« Jamil zerrte ihn auf die Beine und hinter sich her. Die Straße vor ihnen war von Schutt und Balken versperrt, also trat er eine Tür auf ihrer Seite ein und stieß seinen Bruder in den dämmerigen Eingang. Er schlug die Tür hinter sich zu und verbarrikadierte sie mit einem Stuhl, auch wenn das kaum helfen würde.
Balor war mittlerweile wieder bei Sinnen und suchte mit ihm nach einem zweiten Ausgang. Gemeinsam eilten sie in den fremden Innenhof, in dem ein kleiner Gemüsegarten unter Schutt begraben lag.
»Diese verfluchten Bomben!«, murmelte Balor und ballte die Fäuste.
»Weiter!«, befahl Jamil und deutete auf eine gegenüberliegende Tür, die hoffentlich auf die Nachbarstraße führen würde. »Wir müssen zum Hafen, das ist unsere einzige Chance!«
»Wir können die Stadt nicht aufgeben! Was ist mit Vater? Wie sollen wir ihn finden?«, fragte Balor, während Jamil sich gegen die Tür warf und den Schmerz in seiner Schulter ignorierte, als sie aus dem Schloss brach.
»Ich lasse nicht zu, dass du ihn auf eigene Faust suchst. Wir helfen den Überlebenden im Hafen!«
Sein Bruder folgte ihm fluchend und sie stolperten durch das fremde Haus auf die nächste Straße, die zu ihrer Erleichterung verwaist war.
Obwohl der Lärm der Zerstörung die ganze Stadt erfüllte, war ihre Umgebung gespenstisch leer. Einen Moment lang hatte Jamil die Hoffnung, dass hier alle hatten fliehen können – dann fiel sein Blick auf die reglosen Gestalten von Männern, Frauen und Kindern, die allesamt vor ihren Häusern niedergestreckt worden waren.
Beim Anblick der Toten, so sinnlos aus dem Leben gerissen, wurde Jamil übel.
Zu seiner Überraschung war es jetzt sein kleiner Bruder, der ihn am Arm weiterzog. Schlagartig fühlte er sich hilflos und verloren. Die Grauen Soldaten fielen eiskalt über Kas’Tiel her und zeigten kein Erbarmen.
Er folgte Balor durch ein Gewirr aus Gassen und mehr als einmal sahen sie die Uniformierten, wie sie mit ihren Gewehren Menschen vor sich hertrieben.
Als sie das Hafenviertel erreichten, waren sich beide Brüder sicher, dass die Soldaten jeden auf ihrem Vernichtungszug erschießen oder versklaven würden.
Jamil stach der Anblick des Hafens so sehr in der Brust, dass er keuchen musste. Er hatte die Fliehenden und seine Mutter in den sicheren Tod geschickt.
Die Soldaten hatte ganze Arbeit geleistet: Auf den ersten Blick konnte er kein einziges Schiff erspähen, das nicht in Flammen stand. Funken stoben wie Myriaden von Glühwürmchen gen Himmel. Die Hitze erzeugte einen Sog, der an ihren Kleidern zerrte. Dazu kam der ohrenbetäubende Lärm von knackenden Balken und lodernden Flammen.
»Navenne! Wo seid ihr?«, brüllte Jamil atemlos über den tosenden Brand hinweg.
Balor wankte neben ihm. Sie spürten beide, wie sich Entsetzen in ihren Knochen breitmachte. Es war vorbei. Die Soldaten hatten die Stadt überrannt und nur die Götter wussten, wie viele schon gestorben waren.
Sie würden dazu gehören.
Gerade als Jamil Gebrüll in den Hafenstraßen hörte und Balor ins Wasser stoßen wollte, damit sie sich unter dem Pier verbergen konnten, fiel sein Blick auf den Rand der großen Bucht. Zwischen den Rauchschwaden schimmerten dort für einen Augenblick die Umrisse eines Handelsschiffes durch, das dem Funkensturm und den Soldaten noch nicht zum Opfer gefallen war.
Dort waren Menschen, die nicht in schimmernden Uniformen steckten!
Jamil packte seinen Bruder am Ärmel und deutete in die Richtung, bevor sie den Pier entlangrannten und dabei die glühende Luft einatmeten. Als sie durch den Rauch drangen, erblickten sie Flüchtlinge, die hastig zusammengeraffte Sachen auf das Schiff wuchteten, während andere es zum Auslaufen fertigmachten.
Männer hievten die letzten Kisten an Bord und lösten gerade die Taue, als die Brüder es erreichten und als Letzte an Deck sprangen.
Jamil konnte es kaum fassen, als er seine Eltern in der Menge erspähte, beide unversehrt.
Aldo rief Befehle über das Deck, auf dem sich ein bunter Haufen von Bürgern drängte, von denen die wenigsten jemals zur See gefahren waren. Zwei Matrosen, die von einem der anderen Schiffe entkommen sein mussten, halfen dem Stadtvorsteher und zeigten hektisch, was es zu tun gab, damit endlich die Segel gesetzt werden konnten.
Frauen und Kinder liefen hastig an Deck hin und her und klopften alles aus, das durch den Funkenflug zu schwelen begann.
Endlich nahm das Schiff Fahrt auf. Sie hielten es mit Stangen von den brennenden Wracks im Hafen fern und wandten die Gesichter ab, als die Hitze schier unerträglich wurde. Dann ließen sie das Hafenbecken hinter sich.
Auf dem offenen Meer meinte Jamil für einen kurzen Augenblick noch ein zweites Schiff zu erspähen, dann verhüllte dichter Rauch wieder die Sicht.
Jamil dachte schmerzerfüllt an die Freunde und die Heimat, die sie alle so plötzlich verloren hatten. Seit er denken konnte, war Kas’Tiel eine friedliche Handelsstadt, jetzt war sie von den Grauen Soldaten zerstört.
Das Gesicht seiner Mutter war von Tränen und Ruß verschmiert. Sie herzte ihre Söhne und drückte sie so fest, als wolle sie die beiden nie wieder loslassen.
Der Wind frischte auf, trieb den Rauch fort und trug das Schiff in die Schwärze der Nacht, während Jamil und sein Bruder auf die brennende Stadt starrten, deren Flammensäule sich noch lange im Meer spiegelte.
Ein heftiger Ruck riss Jamil aus unruhigen Träumen. Klamme Dunkelheit und der Geruch von modrigem Holz umgaben ihn. Erst nach und nach gewöhnten seine Augen sich an die Verhältnisse, während sein Magen gegen das Schwanken im Schiffsbauch rebellierte.
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