1 ...6 7 8 10 11 12 ...33 »Wünschen Sie also, daß die Schriftsteller die Natur schildern, Rosen, Nachtigallen oder einen frostigen Morgen, während doch alles um uns herum braust und kreist? Was wir brauchen, ist eine nackte Physiologie der menschlichen Gesellschaft; nach Lyrik ist uns jetzt nicht zumute . . .«
»Gebt mir den Menschen, den Menschen!« sagte Oblomow. »Liebt ihn . . .«
»Einen Wucherer, einen scheinheiligen Frömmler, einen diebischen oder stumpfsinnigen Beamten lieben – hören Sie mal! Was reden Sie da? Man sieht, daß Sie sich nicht mit der Literatur beschäftigen!« sagte Penkin, der nun hitzig wurde. »Nein, man muß sie bestrafen, sie aus der bürgerlichen Gemeinschaft, aus der Gesellschaft ausstoßen . . .«
»Sie aus der bürgerlichen Gemeinschaft ausstoßen!« begann Oblomow plötzlich in Begeisterung, stand auf und stellte sich vor Penkin hin. »Das heißt vergessen, daß in diesem schlechten Gefäße ein höheres Element vorhanden gewesen ist; daß ein solcher Mensch zwar ein verdorbener Mensch, aber doch immer noch ein Mensch ist, das heißt dasselbe wie ihr. Ausstoßen! Aber wie wollt ihr ihn ausstoßen aus dem Kreise der Menschheit, aus dem Schoße der Natur, aus der Barmherzigkeit Gottes?« rief er, fast schreiend, mit flammenden Augen.
»Da gehen Sie aber doch zu weit!« sagte Penkin, nun seinerseits erstaunt.
Oblomow sah ein, daß auch er zu weit gegangen war. Er verstummte plötzlich, blieb noch einen Augenblick stehen, gähnte und legte sich dann langsam auf das Bett.
Beide versanken in Schweigen.
»Was lesen Sie denn eigentlich?« fragte Penkin.
»Ich? . . . Meist Reisebeschreibungen.«
Wieder Stillschweigen.
»Werden Sie also die Dichtung lesen, wenn sie herauskommt? Ich würde sie Ihnen bringen«, sagte Penkin.
Oblomow machte eine verneinende Kopfbewegung.
»Na, dann werde ich Ihnen meine Erzählung schicken?«
Oblomow nickte zum Zeichen der Zustimmung.
»Aber jetzt muß ich zur Druckerei!« sagte Penkin. »Wissen Sie, warum ich zu Ihnen gekommen bin? Ich wollte Ihnen vorschlagen, mit nach Jekateringof zu fahren; ich habe einen Wagen. Ich muß morgen einen Artikel über den Korso schreiben: da könnten wir zusammen unsere Beobachtungen anstellen; was mir entginge, würden Sie mir mitteilen; die ganze Sache würde vergnüglicher sein. Kommen Sie doch mit . . .«
»Nein, ich bin nicht wohl«, erwiderte Oblomow, die Stirn runzelnd und sich in die Bettdecke wickelnd; »ich fürchte mich vor der Nässe, es ist noch nicht aufgetrocknet. Aber kommen Sie doch heute zum Mittagessen zu mir; wir könnten ein bißchen miteinander reden . . . Ich habe in zwiefacher Hinsicht Unglück . . .«
»Nein, unsere ganze Redaktion speist heute im Restaurant von Saint-Georges, und von da fahren wir zum Korso. Die Nacht über muß ich aber schreiben und bei Tagesanbruch das Manuskript in die Druckerei schicken. Auf Wiedersehen!«
»Auf Wiedersehen, Penkin!«
»In der Nacht schreiben«, dachte Oblomow. »Wann schläft er denn? Aber er verdient sich gewiß so ein fünftausend Rubel jährlich. Davon läßt sich leben! Aber immerzu schreiben, sein Denken und seine Seele auf Kleinigkeiten zu vertändeln, seine Anschauungen fortwährend zu wechseln, mit seinem Verstande und seiner Phantasie Handel zu treiben, seine Natur zu vergewaltigen, sich aufzuregen, immer Feuer und Flamme zu sein, keine Ruhe zu kennen und es immer irgendwo eilig zu haben . . . Und immer zu schreiben, immer zu schreiben, wie ein Rad, wie eine Maschine: er muß morgen schreiben, er muß übermorgen schreiben; und wenn ein Festtag kommt und es Sommer wird, er muß immerzu schreiben. Wann kann er pausieren und sich erholen? Der Unglückliche!«
Er drehte den Kopf zum Tische hin, wo die Tinte eingetrocknet und kein Schreibpapier und keine Feder zu sehen war, und freute sich, daß er sorglos wie ein neugeborenes Kind dalag, keine aufreibende Tätigkeit hatte und nicht für Geld arbeitete . . .
»Aber der Brief des Dorfschulzen, und die Wohnung?« ging es ihm plötzlich durch den Kopf, und er wurde nachdenklich.
Aber da wurde schon wieder geklingelt.
»Na, das ist ja heute bei mir wie auf einem Taubenschlage!« sagte Oblomow und wartete, wer da hereinkommen würde. Der Eintretende war ein Mann von unbestimmtem Alter und mit einer unbestimmten Physiognomie; er befand sich in einem solchen Lebensstadium, wo es schwer ist, die Zahl der Jahre zu erraten; er war weder schön noch häßlich, weder groß noch klein von Wuchs, weder blond noch brünett. Die Natur hatte ihm keinen entschiedenen, bemerkenswerten Zug verliehen, weder nach der guten noch nach der schlechten Seite hin. Viele nannten ihn Iwan Iwanowitsch. andere Iwan Wasiljewitsch, wieder andere Iwan Michailowitsch.
Auch sein Familienname wurde verschieden angegeben: die einen sagten, er heiße Iwanow, andere nannten ihn Wasiljew oder Andrejew, wieder andere meinten, sein Name sei Alexejew. Ein Fremder, der ihn zum erstenmal sah und seinen Namen hörte, pflegte seinen Namen und sein Gesicht sofort wieder zu vergessen und sich nicht zu merken, was er sagte. Seine Anwesenheit war für eine Gesellschaft kein Gewinn, ebenso wie seine Abwesenheit keinen Verlust darstellte. Wie sein Körper keine besonderen Merkmale aufwies, so mangelte es auch seinem Geiste an Scharfsinn, Originalität und anderen Besonderheiten.
Vielleicht hätte er wenigstens verstanden, Gesehenes und Gehörtes zu erzählen und wenigstens dadurch andere Leute zu unterhalten; aber er war nirgends gewesen: seit er in Petersburg das Licht der Welt erblickt hatte, war er nach keinem andern Orte hingekommen; mithin hatte er nur das gesehen und gehört, was auch die andern kannten.
Ist ein solcher Mensch sympathisch? Liebt er, haßt er, leidet er? Man sollte meinen, auch er müsse lieben und hassen und leiden, da ja niemand davon befreit ist. Aber er bringt es Gott weiß wie fertig, alle zu lieben. Es gibt Menschen, bei denen man mit aller Mühe keine Feindschaft, keine Rachsucht usw. erwecken kann. Man mag sie behandeln, wie man will, sie bleiben immer freundlich. Übrigens muß man ihnen die Gerechtigkeit widerfahren lassen, daß auch ihre Liebe, wenn man sie in Grade einteilt, nie bis zu wirklicher Wärme steigt. Obgleich man von solchen Menschen sagt, sie empfänden Liebe gegen alle und hätten deshalb einen guten Charakter, so lieben sie doch in Wirklichkeit niemanden und haben nur insofern einen guten Charakter, als sie keinen schlechten haben.
Wenn andere in Gegenwart eines solchen Menschen einem Bettler ein Almosen geben, so wirft auch er ihm seinen Groschen hin; wenn sie aber den Bettler schimpfen oder wegjagen oder verspotten, so schimpft und verspottet auch er ihn mit den andern. Reich kann man ihn nicht nennen, weil er nicht reich, sondern eher arm ist; aber auch als geradezu arm kann man ihn nicht bezeichnen, indes nur deshalb, weil es viele Menschen gibt, die ärmer sind als er.
Er hat von seinem eigenen Vermögen eine Einnahme von etwa dreihundert Rubeln jährlich; außerdem bekleidet er irgendein unbedeutendes Amt und erhält ein unbedeutendes Gehalt. Not leidet er nicht und borgt sich von niemandem Geld; sich aber von ihm Geld zu borgen, dieser Gedanke kommt erst recht niemandem in den Sinn.
In seinem Amte hat er keine spezielle ständige Beschäftigung, weil seine Kollegen und seine Vorgesetzten schlechterdings nicht haben herausbekommen können, was er schlechter und was er besser macht, so daß man sagen könnte, wozu er eigentlich befähigt ist. Wenn man ihm das eine oder das andere zu arbeiten gibt, so macht er es so, daß der Vorgesetzte immer in Verlegenheit ist, wie er über seine Arbeit urteilen soll; er sieht sie längere Zeit an und liest darin und sagt endlich nur: »Lassen Sie sie hier; ich will sie nachher genauer ansehen . . . ja, sie ist beinah so, wie sie sein muß.«
Niemals nimmt man auf seinem Gesichte eine Spur einer Sorge oder einer Träumerei wahr, was ein Anzeichen davon wäre, daß er in diesem Augenblicke mit sich selbst spräche; ebensowenig bemerkt man jemals, daß er irgendeinen äußeren Gegenstand forschend ansähe, den er seinem Wissen einzuverleiben vorhätte.
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