Damit verschwand der Schein der Taschenlampe, und die Tür ging wieder zu.
„Da hörst du es“, sagte Judith. „Leg dich schlafen und mach dir keine Sorgen.“
Ich stand noch am Fenster und schaute auf die dunkle Straße. Zwei Militärwagen rasten vorbei. Was für ein Land! In dieser Nacht, nein, in diesem Moment hatte ich etwas begriffen. Es war so etwas wie Dankbarkeit für unser eigenes Land. Nein, es hatte nichts mit Nationalstolz zu tun, aber ich sah plötzlich all diese pseudopolitischen Gespräche mit Nachbarn und Arbeitskollegen vor mir. Na, und dann natürlich mein Onkel Ludger. „Die da oben ...“, so fing bei ihm jeder zweite Satz an, und dann wurden die Zustände in Deutschland niedergemacht. „Die da oben arbeiten ja doch nur in die eigene Tasche. Die da oben, die kannst du in’n Sack stecken und draufhauen, du triffst immer den richtigen!“
Und dann fielen mir unsere Gebete zu Hause und in der Gemeinde ein. Wenn alle persönlichen und gemeinschaftlichen Anliegen durch waren, wenn an alle Kranken gedacht worden war, wenn für Segen und Erweckung gebetet worden war, dann kam auch noch unser Land und die Regierung dran. Für mich ein untrügliches Zeichen, dass sich die Gebetsgemeinschaft endlich dem Ende näherte. Meistens war es Bruder Seidler, der um die rechte Erkenntnis und um die Führung im Glauben für die Regierenden in Stadt und Land und so weiter, und so weiter …
An dieser Stelle hatte ich oft einen verstohlenen Blick auf die Uhr gewagt. Doch jetzt war alles anders. Ich stand hier am Fenster und sah hinaus in die finstere Nacht dieses geschwundenen Landes.
Wie wir die Hitliste der biblischen Namen durchforsten und unserem Infante innominado begegnen
Am nächsten Morgen ging es weiter. Herr Paulmann hatte uns zum Flughafen gebracht, in etwa vier Wochen würden wir auf dem Rückweg wieder zu Gast in seinem Hause sein. Jetzt saßen wir in einer alten Propellermaschine, die uns ins Hochland bringen sollte. Zunächst flogen wir noch am schmalen Küstenstreifen entlang nach Norden. Nach einer kurzen Zwischenlandung auf einer einsamen Wüstenpiste drehte der Flieger nach Osten und stieg die Berggipfel der Anden empor. Der Flug dauerte knapp zwei Stunden, dann landete die Maschine auf der Rollbahn von Cajamarca, einer Provinzhauptstadt im Norden Perus, 2750 Meter hoch über dem Meeresspiegel.
Schon beim Aussteigen empfand ich das kühlere Klima des Hochlandes. Obwohl die Sonne senkrecht über uns stand, waren die Temperaturen geradezu angenehm, verglichen mit der schwülen Hitze in Lima. Und da stand Christa-Maria Stark; sie empfing uns mit offenen Armen. Vom ersten Moment an fühlten wir uns wohl in ihrer Gegenwart, so als würden wir uns schon lange kennen. In ihrem alten, himmelblauen Käfer fuhren wir zu ihr nach Hause.
Der Eindruck, den diese Stadt auf mich machte, war mit Lima nicht zu vergleichen. Hier war alles kleiner und einfacher, kein Haus ging über drei Stockwerke hinaus. Es gab keinen quälend stickigen Berufsverkehr, stattdessen liefen Indios mit Strohhüten auf den Straßen. Und noch etwas fiel angenehm auf. Es gab keine Militärposten an jeder Straßenecke.
„Euer Junge ist jetzt schon drei Wochen alt“, plapperte Christa munter drauflos, „ich kann euch sagen, der hält uns alle ganz schön auf Trab. Im Moment schläft er bei Senora Lucy, das ist meine muchacha, also das Hausmädchen. Die fängt schon an, sich an den Kleinen zu gewöhnen. Also seht zu, dass ihr einen guten Eindruck bei ihr macht“, sie lachte kurz auf, „sonst will sie ihn nachher noch selber behalten.“
Die so lang erwartete Begegnung stand also kurz bevor. Wäre das nicht der perfekte Stoff für einen bewegenden Schicksalsroman gewesen? Von des Schöpfers Hand gelenkt, kreuzen sich unser aller Lebenswege … Es ist die große Weichenstellung auf der Lebensbahn dieses kleinen Erdenbürgers ... So oder ähnlich hätte man diese Begegnung kommentieren können. Doch stattdessen kam mir die blöde Bemerkung von unserem Missionsspezialisten Ernst Mahler in den Kopf: „Die Indiofrauen haben alle krumme Beine.“
Es war unfassbar. In diesem schicksalhaften Augenblick hatte ich nichts Besseres zu tun, als über eine mögliche orthopädische Anomalie unseres Kindes nachzudenken. Hatten Reismüllers bei ihrer Jüngsten nicht auch ein Jahr lang eine Spreitzhose ...?
„Habt Ihr schon einen Namen für den Kleinen?“, fragte Christa.
„Mario“, sagte Judith, „wir wollen ihn Mario nennen.“
Christa lachte. „Dann wissen wir endlich, wie wir ihn ansprechen sollen. Wisst ihr, wie wir ihn bisher genannt haben? Infante innominado. Das bedeutet so viel wie ‚namenloses Kind’, so wird er nämlich bisher in den Papieren aufgeführt. Es wird Zeit, dass aus dem infante innominado endlich euer Mario wird, schließlich ist er schon drei Wochen auf der Welt!“
Der Name Mario war eine schwere Geburt gewesen. Schließlich standen biblische Namen hoch im Kurs in unserer Gemeinde. Es gab schon allein zwei Rahels und zwei Rebekkas bei uns, dazu noch Hanna, Esther und Deborah. Die Jungs waren dagegen biblisch etwas unterbesetzt. Es gab nur Simon und Joel, Lukas und Micha. Somit hätten für uns noch Thomas, Andreas, Johannes und unzählige andere weniger bekannte Namen zur Verfügung gestanden.
„Mario bedeutet nämlich ...“, meinte ich, doch das interessierte niemanden mehr, denn Christa bremste abrupt.
„Wir sind da.“ Sie deutete auf das vor uns liegende Gebäude, ein schlichtes, zweigeschossiges Haus mit kleinen Fenstern, eingerahmt von noch schlichteren Häusern in einer Seitenstraße. Nach Durchqueren eines schmalen Flures standen wir im sonnigen Innenhof, von wo aus fast alle Zimmer zu erreichen waren. Eine Treppe führte auf eine hölzerne Balustrade, die den Hof im ersten Stock umrundete. Ich erinnerte mich an einen Asterixband, wo ich diesen Baustil schon mal gesehen hatte. War er da nicht mit Obelix in Rom gewesen? Zu Hause müsste ich dringend mal nachsehen, in welchem Heft das vorkam. – Erstaunlich, dass mir in diesem feierlichen Augenblick keine gescheiteren Gedanken durch den Kopf gingen ...
Doch da kam uns schon besagte Senora Lucy mit einem Säugling auf dem Arm entgegen. Sie lächelte uns an und sagte etwas Spanisches, Christa sagte etwas Spanisches, und das Kind gab unbekannte Geräusche von sich. Unser Kind … zum ersten Mal erblickten wir unser Kind. Lucy hielt Judith den Kleinen entgegen, die ließ vor Entzückung ihre Handtasche fallen und drückte ihn vorsichtig an sich. Mein Fotoapparat, wo hatte ich nur meinen Fotoapparat! Während ich nervös in meiner Reisetasche kramte, fing der kleine namenlose Erdenbürger an zu quengeln. Alle Umstehenden gerieten ebenfalls in Verzückung. Christas Mann Santiago kam auch gerade in den Hof, um uns zu begrüßen. Ein Schwall von Herzlichkeiten wurde ausgetauscht, als ich endlich meine Kamera hervorzog. Dem Kleinen war der Trubel wohl doch nicht ganz geheuer. So zog er die Mundwinkel herunter, um kurz darauf mit weit aufgerissenem Mund uns alle zu übertönen. Genau in diesem Augenblick drückte ich ab, ein wahrhaft bewegendes Bild unserer ersten Begegnung.
Wie wir unseren persönlichen Flohzirkus bekommen und ich eine überirdische Begegnung habe
Am nächsten Tag begann unser Behörden-Marathon. Wir mussten erst einmal zum Gericht, unseren Antrag stellen und die Papiere abgeben. Christa, Judith und ich saßen am wackeligen Holztisch des Gerichtssekretärs. Wir hatten ihm gerade unsere mühsam erarbeitete Mappe mit allen Adoptionspapieren hinübergeschoben, und nun blätterte er mit versunkenem Kopf darin und machte hier und da mit einem roten Stift am Rand Notizen oder kreuzte die eine oder andere Stelle an, ohne aufzublicken. Christa gab gelegentlich auf Spanisch einen Kommentar, den er mit einem kurzen „Hm“ quittierte.
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