Nur eines bereitete mir Kopfzerbrechen. Inwieweit sollten wir bei diesem Besuch unseren Glauben bekennen? Schließlich kannten wir die persönliche Einstellung des Jugendamtsleiters überhaupt nicht. Sicher, irgendeine Konfessionszugehörigkeit und ein gelegentlicher Kirchgang waren angebracht. Aber unsere Gemeinde war für Außenstehende nicht gerade alltäglich, unser praktizierter Glaube ebenso wenig. Wie schnell geriet man da in den Ruf des Sektierertums? Außerdem sah unser Besucher überhaupt nicht konfessionell gebunden aus. Die etwas strähnigen Haare, diese Leinenweste und die Nickelbrille ... wie ein zu spät gekommener John Lennon. Sicher war er Humanist, Freidenker oder so etwas? Unter diesen Sozialarbeitern gab’s bestimmt auch viele Anthroposophen. Da würde mir ein Satz wie „Wir glauben an den Herrn Jesus Christus“ nur schwer über die Lippen gehen. Schließlich mussten wir für unseren Sozialbericht im allerbesten Licht stehen.
Andererseits wollte ich auch nicht dastehen wie Petrus in der Verleugnungs-Geschichte. Womöglich würde ich später einen Misthaufen vor unserer Haustür antreffen, mit einem Hahn darauf, der dreimal laut krähen würde. Nein, das Ganze musste höchst diplomatisch behandelt werden. Ich könnte ja noch schnell Jesus um Rat fragen. Aber nein, ich war mir nicht sicher, ob ... Doch, ich war mir sicher ... sicher, dass er für meine Gedanken kein Verständnis aufbringen würde.
Aber Judith war mal wieder schneller als alle meine Gedanken. Mit wenigen Sätzen schilderte sie unser Glaubens- und Gemeindeleben, und unser humanistischer Anthroposoph machte sich ein paar Notizen, ohne weiter nachzufragen. Ein paar Tage später schickte er uns einen Sozialbericht, bei dem ich selbst staunte, was für ein tolles Zuhause wir vorweisen konnten.
Wie Kap Horn zum Meilenstein unserer Reise wird und wir dem Schutz der deutschen Botschaft anbefohlen werden
In drei Tagen war unser Flug gebucht. Ein letztes Mal in der Gemeinde zum Gottesdienst – es erschien mir wie eine Abschiedsvorstellung. Noch bevor wir Platz nehmen konnten, kam Gertrud auf uns zu, eine ältere Dame, die vor einiger Zeit ihren einzigen Sohn verloren hatte. Sie hielt unsere Hände.
„Heute früh in der Stillen Zeit“, sagte sie, „habe ich ein Wort für euch bekommen: ‚Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest.“ Dabei sah sie uns mit Tränen in den Augen so mitfühlend an, dass mir ganz warm ums Herz wurde.
„Ich bin sicher“, fuhr sie fort, „dass ihr mit Gottes Geleit alle Gefahren und Anfechtungen bestehen werdet, und dass der Widersacher kein Anrecht auf euch hat.“
Dann drückte sie mich so fest an sich, dass auch ich feuchte Augen bekam. Eigentlich wollten wir in fünf Wochen zurück sein, aber dieser Abschied wäre auch für fünf Jahre geeignet gewesen.
Bruder Seidler, der Geschäftsführer unserer Gemeinde, trat hinzu. Zunächst trat er etwas verlegen von einem Bein auf das andere, bis Gertrud mich aus ihrer fülligen Umarmung entließ und sich Judith zuwendete. Er zog mich beiseite und tat dabei etwas geheimnisvoll.
„Ihr könnt ganz beruhigt sein“, flüsterte er mir zu, „aus zuverlässiger Quelle weiß ich, dass der Leuchtende Pfad überwiegend im Süden von Peru aktiv ist. Wolltet ihr nicht in den Norden?“
Ja, unser Ziel lag mehr im Norden, also ein wahrhaft tröstender Zuspruch von Seidler. Der Leuchtende Pfad, der Sendero Luminoso, war eine Guerillaorganisation, die sich bis in die 90-er Jahre einen Krieg mit dem Militär lieferte, mit allen schrecklichen Folgen, die so ein Kampf für die Bevölkerung mit sich brachte. Seidler schien bemüht, mich zu beruhigen und Judith erst gar nicht mit dieser Thematik zu konfrontieren.
„Man hat ja in letzter Zeit davon gehört“, fuhr er flüsternd fort, „dass der Leuchtende Pfad selbst in der Hauptstadt Lima aktiv ist. Aber ihr braucht euch keine großen Sorgen zu machen. In Lima ist die Präsenz des Militärs entsprechend groß, und als Ausländer steht ihr sowieso unter dem Schutz der deutschen Botschaft.“
Seine beschwörend beschwichtigenden Worte hatten bei mir genau das Gegenteil erreicht. Wieso hatten wir uns ausgerechnet so ein zerrissenes Land wie Peru ausgesucht? Es schien mir angebracht, all diese Details von Judith fern zu halten. Man sollte sie nicht unnötig beunruhigen. Außerdem fragte ich mich, ob ich den Schutz der deutschen Botschaft höher einstufen konnte als den Schutz Gottes. Das Orgelvorspiel setzte ein, und ich bedankte mich bei Seidler mit einem herzlichen Händedruck. Dann rutschten Judith und ich in die hinterste Stuhlreihe.
Heute war ein Gastprediger angekündigt. Für mich war das immer eine interessante Abwechslung. Nicht dass unser Prediger, der gute Bruder Bödeker, schlecht gepredigt hätte, ganz im Gegenteil, aber von Zeit zu Zeit war ich neugierig auf andere Gedanken. Nach zwei Liedern und den Ankündigungen trat der Gast nach vorne, eine wahrhaft imposante Erscheinung. Ein Kreuz wie ein Kleiderschrank, auf dem einen Arm ein tätowierter Anker, auf dem anderen ein Drache oder so was ähnliches. Er sortierte ein paar Blätter vor sich auf der Kanzel und sah nach vorn. Ebenso schien er seine Gedanken zu sortieren, bevor er mit lauter Stimme begann.
„Brüder und Schwestern“, rief er, „ich will euch heute Zeugnis geben, wie der Herr mich befreit hat von meinem alten Adam, und wie ich durch seine Gnade die Welt überwunden habe. Ja, ich war in der Welt zu Hause, von St. Pauli bis Kap Horn, von Shanghai bis Lima ...“
Beim Wort Lima richteten sich schlagartig alle meine Antennen auf; vielsagend blickte ich Judith an. Vielleicht hatte uns dieser Bilderbuchseebär da vorne mehr zu sagen, als ich ahnte. Doch zunächst erzählte er von seinem verwegenen Lebenslauf als Zeitschriftenwerber in einer Drückerkolonne.
„Ihr müsst nur erst mal zur Tür reinkommen, dann habt ihr es schon fast geschafft. Ich habe alle Rollen durchgespielt: ‚Haben Sie Vorurteile gegen Vorbestrafte?’ Die Nummer lief eine Zeit lang ganz gut, oder auch: ‚Ich mache eine Umfrage übers Fernsehprogramm.’ Da fallen die Leute reihenweise drauf rein. Ich habe in unserer Gruppe die meisten Abos reingeholt. Meine größte Leistung war eine alte Frau aus Frankfurt. Die hatte schon alles abonniert, was in Frage kam. Da hab’ ich ihr noch den Playboy aufgeschwatzt, oder waren es die St. Pauli-Nachrichten? Na, ihr wisst schon, was ich meine.“
Sein Zeugnis hatte eine fesselnde Wirkung auf die versammelte Gemeinde. Viele lauschten ihm mit großen Augen und offenem Mund. Ich versuchte derweil, mir unsere liebe Gertrud mit einem Playboy vorzustellen.
„Geschwister“, rief er wieder laut, „der Widersacher hat viele Fallstricke ausgelegt, um euch in die Tiefe zu ziehen. Auch mich hat er geblendet mit den Lüsten dieser Welt, damit ich das Gnadenangebot unseres Erlösers nicht erkenne.“
Jetzt begann er mit seiner großen Fahrt über die Weltmeere. Ein Hauch von Fernweh wehte durch unseren Gemeindesaal.
„Da hatte mal so ein stiller, junger Mann bei uns angeheuert“, erzählte er weiter, „der war natürlich ein gefundenes Fressen für uns. Aus dem wollten wir erst mal einen richtigen Seemann machen. Am ersten Abend an Bord wurde er zwangsweise abgefüllt, bis er seine eigene Großmutter nicht mehr kannte. Und in seinem beduselten Kopf hat er uns dann gebeichtet, dass er noch nie so richtig mit einer Frau ... na, ihr wisst schon. Da haben wir dann alle zusammen geschmissen und im nächsten Hafen, war es in Rio? Nein, ich glaube, es war in Sao Paulo, na, ihr kennt das ja, die Animierzeilen sehen in allen Häfen der Welt gleich aus.“
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