Im Laufe der Zeit bekam ich Zweifel, ob unsere Versuche jemals belohnt würden. Herr Wong lächelte uns immer noch mit asiatischer Vieldeutigkeit an. Der Luftpostbrief aus Indonesien, den ich eines Tages in den Händen hielt, war nicht von unserer Missionsschwester, sondern enthielt die garantierte Gewinnmitteilung einer Lotterie, die ich nie mitgemacht hatte. Und aus Peru kam auch keinerlei Lebenszeichen.
Mein alter Schulatlas, der einige Monate auf der Ablage neben dem Fernseher gelegen hatte, um immer griffbereit zu sein, wanderte wieder ins Bücherregal. Bei Gesprächen mit Freunden und in der Gemeinde vermieden Judith und ich inzwischen das Kinderthema. Wir wollten auf jeden Fall mitleidige Kommentare vermeiden.
Ein letztes Gespräch mit meinem Arbeitskollegen Makowiz gab mir den Rest. In der Frühstückspause sah er mich voller Mitgefühl an und meinte: „Mach dir nichts draus, Achim. Wer weiß, was ihr euch da für einen Kuckuck ins Nest geholt hättet. Du brauchst sie dir ja nur mal angucken, da hinterm Stadtpark an den Containern ... Wie die schon aussehen! Außerdem ist das Leben ohne Kinder viel angenehmer. Kannst dir ja nichts mehr leisten, wenn du mal so ein paar Blagen zu füttern hast. Und außerdem leben wir nicht im Urwald, wo man viele Kinder zur Altersvorsorge braucht. Also ... warum willst du dich damit belasten?“
„Du hast doch auch zwei Kinder“, wandte ich ein.
Er lächelte gequält. „Eben, drum! Früher hätte man ja noch sagen können, man will dem Führer ein Kind schenken, aber heute? Ich gebe dir einen guten Rat, Achim. Mach dir ein schönes Leben“, er zwinkerte mir zu, „du weißt ja, man lebt nur einmal.“
Der letzte Satz war natürlich wieder als kleiner Seitenhieb auf meinen Glauben gedacht. Aber heute verzichtete ich aufs Kontern. Ich hatte die Nase voll von all diesen Ratschlägen. Vielleicht hatte er ja nicht mal ganz Unrecht. Judith und ich könnten uns auch auf ein Leben ohne Kinder einstellen, obwohl dieser Gedanke Judith sicher schwerer fiel als mir.
Wie ein Telefonanruf unser Leben verändert und mein persönlicher Hahn dreimal krähen will
Über ein Jahr war vergangen. Das Thema „Kinder“ beherrschte nicht mehr täglich unsere Gedanken. Nur heute, da war wieder so ein Tag. Wir hatten Besuch von den Reismüllers – eine reizende, junge Familie aus unserer Gemeinde mit noch reizenderen Kindern. Es war inzwischen spät geworden, es ging schon auf elf zu.
Die drei Kinder im Alter zwischen fünf und zehn waren total übermüdet und somit unausstehlich, ein Tatbestand, der für mich niemals begreiflich sein wird. Jeder normale Mensch wird still und schläfrig in diesem Stadium, nicht so Kinder bis zu einer bestimmten Altersgruppe. Gerade hatte der Älteste der Kleinen unseren Kater Ingo am Schwanz gezogen. Der war zwar auf die oberste Plattform seines Kratzbaumes geflüchtet, das Kind war ihm aber unter Zuhilfenahme eines Stuhles nachgestiegen. Ingo fühlte sich bedroht und langte mit ausgefahrenen Krallen zu. Der kleine Reismüller, an der Hand getroffen, schrie auf, als wäre er King Kong begegnet.
Mutter Reismüller sprang auf und zog ihren Sprössling vom Stuhl. Vater Reismüller begann einen Vortrag über das Aggressionsverhalten bei Säugetieren. Die beiden Reismüller-Geschwister tanzten hämisch lachend um ihren Bruder herum. Judith versuchte Ingo zu beruhigen, der mit hochstehendem Nackenhaar vom Kratzbaum herunterfauchte, und ich, ich wollte gerade ins Bad gehen, um aus dem alten Schuhkarton in Hängeschrank Pflaster und vorsichtshalber auch gleich Verbandszeug zu holen. In diesem Moment klingelte das Telefon.
Man hätte es leicht überhören können in dem Durcheinander – und überhaupt, wer rief um diese Zeit denn noch an? Wahrscheinlich wieder ein fröhlicher Zecher, der ein Taxi brauchte. Bis auf eine Ziffer war unsere Nummer mit der Taxizentrale identisch ... lästig, lästig. Ich nahm den Hörer ab, bereit, eine kleine Nettigkeit in die Sprechmuschel zu zischen. In der Leitung knackte es ein paar Mal, dann rief eine Frauenstimme: „Hallo?“
„Ja ... hallo“, antwortete ich.
Der kleine Reismüller hielt derweil seine Hand empor wie ein Mahnmal. Ein roter Streifen zierte den Handrücken.
Doch dann fing die Stimme am anderen Ende der Leitung an zu reden. „Hier ist Christa-Maria Stark aus Peru. Ich habe ein Kind für euch. Wann könnt ihr kommen?“
Ingo hatte beschlossen, von seinem Kratzbaum herabzusteigen, um das lärmende Wohnzimmer zu verlassen. Als er auf den Boden sprang, hüpften die drei kleinen Reismüllers johlend zur Seite, als wäre King Kong vom Empire State Building herabgestiegen.
Mit diesem Bild vor Augen stammelte ich: „Ja, natürlich ... die Papiere, wenn wir die Papiere fertig haben.“
„Ich schicke euch noch ein Telegramm“, hörte ich die Frauenstimme, „ich muss jetzt Schluss machen, ich habe schon seit heute Mittag versucht durchzukommen, jetzt hat’s endlich ...“, der Satz wurde durch ein kurzes Knacken abgebrochen. Dabei war das Schlusswort so tiefsinnig doppeldeutig gewesen: „Jetzt hat’s endlich geklappt.“
Ich hielt den Hörer regungslos umklammert, als kämen noch weitere geheime Botschaften, doch die Leitung war tot. Nachdem ich mich eine halbe Minute nicht gerührt hatte, wurde Judith auf mich aufmerksam. Sie kam zu mir und fragte: „Ist was mit deinem Vater?“
Erst jetzt sah ich wieder die drei kleinen Reismüllers, die respektvoll unserem Ingo hinterher schauten.
„Nein, nein, mit Vater ist nichts“, sagte ich, „im Gegenteil, wir haben gerade ein Kind gekriegt.“
Der Abend wurde noch richtig spät, zum Glück hatten wir eine Flasche Sekt im Keller. Die Kinder waren wieder auf der Suche nach der Katze, während wir vier Erwachsenen auf das bevorstehende Glück anstießen. Immer wieder musste ich die paar Sätze wiederholen, die ich gerade am Telefon gehört hatte.
Vater Reismüller erhob sein Glas und sagte: „Ich denke, wir sollten uns das Du anbieten.“ Und als er unser zustimmendes Nicken sah, fuhr er fort: „Wenn ich dann den Anfang machen dürfte, ich bin der Heinz.“
Während seine Frau sich als Annelene vorstellte, hatte ich das Gefühl, als hätten wir eine Klubmitgliedschaft erworben. Raus aus dem einsamen Dasein der Kinderlosen, rein in den fröhlichen Klub der Eltern.
Heinz überflog gleich darauf mit Kennerblick unsere Wohnungseinrichtung mit all den geschmackvollen Nutzlosigkeiten, die Judith so gern dekorativ verteilte. „Sieht ja alles hübsch aus“, sagte er dann, „aber wenn euer Kind erst mal da ist ...“
Weiter sagte er nichts. War mir auch egal. Ich verbuchte diesen Satz auf unser ohnehin schon überfülltes Konto mit guten Ratschlägen, dann erhoben wir die Gläser und stießen nochmals an.
Zwei Wochen später kam schließlich das Telegramm aus Peru: „euer kind ist geboren 5. januar junge 2500 gramm liebe grusse christa.“ Die folgenden Wochen bis zu unserem Abflug waren ausgefüllt mit Behördengängen und Papierkram. Unsere Adoptionsakte wuchs rasant. Nach Jahren des Wartens erfüllte uns auf einmal eine große Anspannung und Hektik. Eines der wichtigsten Dokumente, das wir benötigten, war der sogenannte Sozialbericht des Jugendamtes. Zu diesem Zweck hatte sich der Jugendamtsleiter zu einem Hausbesuch angekündigt.
Wir hatten alles gut präpariert. Die Wohnung war geputzt und aufgeräumt, trotzdem hatten wir einige Dinge wie zufällig auf dem Tisch und in den Ecken verstreut, um nicht in den Verdacht von Perfektionismus zu geraten. Unsere Kleidung war bewusst leger gewählt. Auf meiner Hose sollte schließlich auch ein gespuckter Spinatfleck denkbar erscheinen.
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