Unsere Straße war eine Nebenstraße, es könnte leicht passieren, dass ich eine Viertelstunde auf das nächste Auto warten müsste. Die Minuten verstrichen, und nichts passierte. Ein einsamer Radfahrer kam vorbei. Ich trat zwei Schritte vom Fenster zurück, um nicht gesehen zu werden.
Eigentlich hatte ich mit meiner Aufgabenstellung die Chancen schon zu unseren Ungunsten verteilt. Der prozentuale Anteil roter Autos am gesamten Straßenverkehr lag ja weit unter fünfzig Prozent. Bedeutete das nicht, dass ich die Aussichten auf ein Kind entsprechend niedrig angesetzt hatte? Vielleicht hätte ich es umgekehrt machen sollen, rot heißt „Nein“, alles andere heißt „Ja“. Aber jetzt noch tauschen? Nein, wie hätte das ausgesehen vor Gott? Schließlich stand ich hier nicht am Roulette-Tisch, sondern vor Gottes Angesicht. Sollte er diese ungleichen Spielchancen doch ruhig als Beweis sehen für meinen tiefen Glauben an seine Führung.
Ein Motorgeräusch näherte sich. Es war soweit, in wenigen Sekunden würde Gott zu mir reden, würde diesen ahnungslosen Autofahrer zu einem Werkzeug seines Wirkens machen. Da ... jetzt ... der Wagen, gleich würde er ... und schon sauste er vorbei, ein älterer Toyota ... Farbe: orange ... Eigentlich richtig orange, genau genommen ein rötliches Orange, ein Orange, das sich auf der Farbskala deutlich im rotstichigen Bereich bewegte ... Aber eigentlich nicht richtig rot.
Wie konnte man nur ein Auto so lackieren! Noch nie hatte ich solch eine seltsame Farbe gesehen, einfach schauderhaft. Bestimmt hatte da jemand selbst mit Pinsel und Farbe rumgekleckert. Wahrscheinlich war die Originallackierung purpurrot gewesen.
Aber es half nichts. Mein Ärger über diese Farbe sollte ja nur von meiner Unsicherheit ablenken, wie ich das Ganze zu bewerten hätte. War das ein rotes Orange gewesen oder ein orangefarbenes Rot? Die Frage benötigte dringend eine wissenschaftliche Klärung. Hatte ich nicht in meinem Zeichenschrank im Keller diese große Farbpalette liegen? Na klar, das gesamte Farbspektrum mit allen denkbaren Schattierungen war da vertreten. Chromorange und cadmiumrot lagen denkbar dicht nebeneinander.
Ich rannte los, riss die Kellertür auf und sprang die Stufen hinunter. Gleich würde ich Klarheit haben. Auf dem letzten Treppenabsatz traf mich dann die Stimme Jesu. Sie war wesentlich gewaltiger als sonst, fast wie ein kleiner Donnerschlag. Man hätte auch meinen können, es wäre die Stimme von Gottvater gewesen, obwohl es natürlich Quatsch ist, so was an der Stimmlage auszumachen.
„Wenn ich es nicht mit eigenen Augen sehen würde“, rief mir Jesus zu, „ich würde es nicht glauben, was du da gerade tust.“
Ich blieb wie angewurzelt stehen. „Herr, ich dachte doch nur ...“, stammelte ich, doch Jesus unterbrach mich, was sonst gar nicht seine Art war, mitten im Satz.
„Wenn du so weitermachst, wirst du dir deine Lebensfragen alle selbst beantworten und sogar noch fest daran glauben, du hättest deine Weisheit von mir bekommen. Jetzt habe ich dir mit diesem komischen Toyota schon eine Antwort gegeben, die selbst du verstehen könntest. Ich hätte mich auch raushalten können und zusehen, wie du dir mit dem erstbesten Wagen deine Antwort zusammenbastelst. Wann begreifst du das endlich? Glauben heißt nicht Wissen. Glauben heißt mehr als Wissen.“
Es war wieder still. Ich stand immer noch wie angewurzelt am Fuß der Kellertreppe.
„Jesus?“, fragte ich vorsichtig, doch ich bekam keine Antwort. Anscheinend hatte er mir alles gesagt, was gesagt sein musste. „Glauben heißt mehr als Wissen“, wieder einer von seinen schwer verdaulichen Sprüchen. Warum war das alles nur so kompliziert?
Als ich die Treppe langsam wieder hochging, kam mir aber doch noch ein passender Bibelvers in den Sinn, den ich wie ein Stoßgebet nach oben schickte.
„Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Wer hatte das noch gesagt und warum? Müsste ich bei Gelegenheit mal nachsehen.
Wie Bruder Ernst Mahler am Globus dreht und mein Schulatlas im Regal verstaubt
Als wir beim Thema „Auslandsadoption“ angekommen waren, lag bereits eine Menge hinter uns: Zahlreiche Besuche bei verschiedenen Ärzten, der Gang zum Jugendamt wegen einer deutschen Adoption und schließlich die Anfrage bei diversen Organisationen, die eine Auslandsadoption vermitteln. Wir wollten uns aber nicht nur auf amtliche Stellen verlassen, sondern versuchten auch privat, Kontakte ins Ausland zu knüpfen.
In unsrer Gemeinde gab es schließlich Ernst Mahler, einen alten Missions-Hasen, schon seit längerer Zeit aus dem Dienst ausgeschieden, aber immer erfreut, wenn man seine Hilfe in Anspruch nahm. Als er unser Informationskonto mit Ratschlägen und Kommentaren auffüllte, drehte er vor seinem geistigen Auge den Globus herum wie einen Ansichtskartenständer.
„Die Philippinen würde ich empfehlen, ein wunderschönes Land ... sehr intelligente Menschen, die Filipinos ... Da müsste doch was zu machen sein ... Oder wie wäre es mit Bangladesch? Ein Land mit großer Armut und noch größerem Kindersegen ... Die Hautfarbe wäre natürlich dunkler als bei den Filipinos ... Wenn das ein Problem ist wegen der sozialen Integration und so ... Unter diesem Gesichtspunkt wäre Schwarzafrika natürlich auch zu überdenken, obwohl ... Wir als Gemeinde haben einen Bruder mitten ins Missionsfeld der afrikanischen Savanne ausgesendet vor ein paar Jahren, da könnte man doch über diesen Kontakt ... Südamerika kann ich natürlich auch empfehlen ... reizende Menschen, diese Südamerikaner; vielleicht etwas unorganisiert, aber sonst ... In den Partnergemeinden dort haben sich die herzlichsten Freundschaften ergeben ... Unter den Mestizen, also den Mischlingen, gibt es ausgesprochen schöne Menschen“, wahrscheinlich meinte er die Frauen, „während im Hochland die Indios ... Also die Indiofrauen haben alle krummen Beine, aber das kommt sicher von der schweren Arbeit.“
Bei dieser internationalen Auswahl, die wir da von Bruder Ernst Mahler präsentiert bekamen, war es mir selbst nicht mehr ganz klar, wieso wir überhaupt irgendwelche Zweifel und Probleme hatten. Die Auswahl war riesig. Es gab Millionen armer, elternloser Kinder rund um den Globus, die nur darauf warteten, dass wir uns endlich in den Flieger setzen würden. Doch wie sollten wir nur an eines dieser Million Kinder herankommen?
Wir bemühten unsere vielfältigen, internationalen Kontakte und hofften auf die Wegweisung Gottes. Da war zum Beispiel unser China-Restaurant. Durch unsere regelmäßigen Besuche waren wir mit der Familie Wong ein wenig vertraut, soweit die asiatische Höflichkeit dies überhaupt zuließ. Und so fragten wir eines Tages, ob man über die familiären Beziehungen nach Hongkong Kontakt zu einem Kinderheim bekommen könnte. Herr Wong lächelte uns fernöstlich an und versprach, im nächsten Brief an seinen Bruder unsere Bitte vorzutragen.
Da war zum Beispiel die Aussendungsfeier einer Nachbargemeinde. Eine junge Schwester wurde ausgerüstet für ihren Dienst in Indonesien. Wir gaben ihr einen Brief mit, in dem wir uns vorstellten und unser Anliegen formulierten. Es könnte ja sein, dass sie bei ihrer Arbeit auf der anderen Seite des Globus genau auf das Waisenkind treffen würde, das Gott für uns schon ausgesucht hatte. Außerdem hatte ich im Atlas nachgesehen: Indonesien lag praktisch in direkter Nachbarschaft zu den Philippinen, laut Bruder Ernst Mahler eine empfehlenswerte Ecke.
Da war zum Beispiel dieser Pastor auf unserer Sommerfreizeit. Der kannte wieder einen Amtskollegen, der hatte mal in Südamerika adoptiert; Peru, Kolumbien oder diese Ecke da. Ich traute mich zwar nicht zu fragen, ob das Kind ein Hochlandindio war, aber Judith und ich verschickten wieder unser Brieflein: „... möchten wir uns auf diesem Wege vorstellen und wären Ihnen zutiefst verbunden, wenn Sie uns bei unserem Anliegen ... usw., usw. ...“
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