Gleich würde ich Gewissheit haben. War der Neue wirklich der Junge aus meinem Traum? Oder war das alles nur Einbildung? Die Neugierde brachte mich fast um den Verstand. Fast so als hätte jemand ein Seil um meine Hüften geschwungen und mich zu sich gezogen, bewegte ich mich schnell und ohne viele Schritte in Richtung unseres Stammtisches. Phil und Jenny versuchten mit mir Schritt zu halten, mussten jedoch zwischendurch immer wieder vom schnellen Gehen zum Laufen beschleunigen um mit mir auf selber Höhe zu bleiben. Ich blieb direkt vor dem Tisch stehen, bewegte mich keinen Zentimeter mehr und wartete bis der Junge den Kopf hob und mir entgegensah. Er war vertieft in ein Buch, vielleicht hatte er mich deswegen nicht kommen hören. Meine Lippen waren wie zusammengenäht. Ich versuchte ein Hallo herauszupressen, es tat sich aber nicht das Geringste. Gott sei Dank war Jenny auch schon neben mir und brüllte das Hallo, das mir im Hals stecken geblieben war, heraus.
Erschrocken blickte der Junge plötzlich auf. Er schien uns wirklich nicht gehört zu haben und war von unserem Eintreffen an diesem Platz sichtlich überrascht.
Sein Gesicht war dasselbe wie das Gesicht des Jungen aus meinem Traum. Nun gab es keinen Zweifel mehr. Diese tiefblauen Augen, die kantigen Wangenknochen und diese vollen und unwiderstehlichen Lippen. Er war es eindeutig. Er hatte dichtes braunes Haar, wie passend. Doch die Länge stimmte nicht. Er hatte sich den Großteil seiner Haare mit Gel hochgestellt, der Rest war kurz geschnitten.
Es fühlte sich an als ob jemand mein Herz genommen und zum Tanz ausgeführt hatte. Da saß er, direkt vor mir. Der Junge aus meinem Traum. Und ich empfand dasselbe Kribbeln in meinen Gliedern wie auf dem Feld, wo ich ihm das erste Mal begegnet war.
„Hey Bonnie, reiß dich zusammen. Es war nur ein Traum. Ein verrückter und eigenartiger Zufall. Komm mal wieder runter. Steh hier nicht so peinlich herum und starre ihn an.“, versuchte ich mich selbst aus meiner Starre zu lösen. Doch erste Phils Berührung an meinem Unterarm riss mich aus meiner gedankenverlorenen Stille. Als ich zu ihm hinüber sah begegnete mir ein verständnisloser und etwas hilflos wirkender Blick. Jenny unterhielt sich unterdessen mit dem Neuen.
„Du sitzt auf unserem Stammplatz“. meinte sie mit einem erfreuten Tonfall zu dem Jungen meiner Träume.
Er sah peinlich berührt auf die Sitzbank und antwortete „Oh, das tut mir leid. Ich wusste nicht, dass hier schon reserviert war.“
„Mach dir nichts draus. Du kannst ruhig hier sitzen bleiben. Momentan ist der vierte Platz ohnehin nicht besetzt.“
Ich wartete bis Jenny ihren Satz fertig gesprochen hatte und tat es dann meinen Freunden gleich. Ich setzte mich auf meinen Platz, der genau gegenüber von unserem neuen Mitschüler lag.
Ich konnte die Augen nicht von ihm lassen, ich analysierte jedes Detail in seinem Gesicht. Und genauso wie in meinem Traum kam es mir auch jetzt so vor, als würde ich ihn schon ewig kennen, als hätte ich diese Gesichtszüge tausende Male gesehen.
Als ich zu Jenny hinüber blickte merkte ich, dass auch sie von seinem Aussehen gebannt war. Scheinbar gefiel ihr der Neue.
„Wer weiß, vielleicht ist das genau der richtige Platz für dich.“, führte Jenny die Konversation mit dem Neuen fort und bekundete durch ihren Tonfall ihr eindeutiges Interesse an ihm. Sie sah kurz zu mir hinüber und ein verstohlenes Lächeln machte sich auf ihrem Gesicht breit.
Ich versuchte ihr Lächeln zu erwidern, doch meine Mundwinkel bewegten sich nicht. Ich fühlte mich mehr als unwohl in dieser Situation. Ich wollte nicht, dass Jenny Anspielungen darauf machte, dass sie den neuen Mitschüler als ihre nächste Errungenschaft sah. Ich wollte nicht, dass sie ihm auf so eine persönliche und intime Weise näher kam. Ich wollte nicht einmal, dass sie seine Hand berührte oder ihn auch nur zu lange ansah. In mir machte sich ein starkes Gefühl der Eifersucht breit. Sie brannte förmlich in meinen Gliedern.
Doch warum war ich eifersüchtig? Neben mir saß Phil, mein Freund, den ich seit Jahren kannte und der mir mehr als vertraut war. Warum kümmerte es mich ob Jenny diesen Neuen, mit dem ich noch nicht ein Wort gewechselt hatte, gut fand oder nicht. Ich wusste nichts über ihn, ich kannte ihn nicht im Geringsten und trotzdem kamen in meinem Inneren Besitzansprüche auf.
Jenny bemerkte meinen geistesabwesenden Blick und sah mich verständnislos an.
„Bitte entschuldige das unhöfliche Verhalten meiner Freunde. Das hier sind Phil und Bonnie.“
Der Junge sah zuerst Phil und dann mich an. Als unsere Augen sich trafen war es als würde etwas in mir explodieren und eine unerträgliche Hitze freigeben. Ich fühlte mich als wollte ich nie wieder in die Augen eines anderen sehen. Als würde es mir reichen den Rest meines Lebens hier zu sitzen und in diese tiefblauen Augen hinein zu blicken. Sein Blick hing genauso an mir wie meiner an ihm. Es fiel ihm sichtlich schwer die Augen von mir zu nehmen, auch nachdem Jenny ihn wiederholt nach seinem Namen gefragt hatte.
„Ähm, mein Name ist Brian. Schön euch kennen zu lernen.“
Er reichte uns die Hand zum Gruß. Jenny freute sich über diese Geste und streckte ihm ihre Hand in Windeseile entgegen. Es kam mir vor als würde dieser Handschlag eine halbe Ewigkeit dauern. Jenny schien keine Lust zu haben seine Hand loszulassen, doch nachdem er das dritte Mal versucht hatte sich aus ihrem Griff zu lösen, gab sie auf und zog zurück. Phil streckte ihm ebenfalls die Hand entgegen und begrüßte ihn. Dann, als er sich mir zuwandte und meine Begrüßung erwartete, trafen sich unsere Blicke erneut.
„Hallo Bonnie.“, sagte er mit einer engelsgleichen und dennoch kräftigen Stimme. Sein Akzent erinnerte mich an einen meiner Lieblingsfilme. Typisch Britisch. Er war mit Sicherheit Engländer.
„H… Hi Brian. Freut mich.“
Ich erwiderte seine Begrüßung und legte meine Hand in seine.
Noch nie hatte ich so ein Gefühl empfunden. So als wäre es Bestimmung seine Hand zu halten. Als hätte es niemals anders sein sollen. Auch er sah verwundert auf unsere Hände und machte keinerlei Anstalten den Griff zu lösen.
Philip räusperte sich hörbar laut neben uns. Ich schüttelte die verträumten und abwegigen Gedanken ab und löste mit großer Überwindung den Griff. Ich sah zu Phil hinüber und konnte seinem eifersüchtigen und vorwurfsvollen Blicken nicht standhalten. Den Rest der Mittagspause starrte ich auf mein Sandwich und hoffte keine weiteren Fehler mehr zu machen.
Jenny hingegen nutzte mein Schweigen und Phils Desinteresse und konzentrierte sich voll und ganz auf Brian.
„Also Brian. Wo kommst du her? Und was verschlägt dich nach Temecula?“
Brian zögerte nicht einen Moment und beantwortete geduldig jede einzelne von Jennys Fragen. Ich hing wie gebannt an seinen Lippen. Der Klang seiner Stimme vibrierte in meinem Körper und durchzog mich mit einem angenehmen Schauer.
Am Ende der Pause wussten wir, dass Brian aus London hierhergezogen war, weil sein Großvater in eine betreute Wohngemeinschaft ging und sich wünschte, dass seine Familie näher bei ihm lebte. Sein Vater fand schnell einen Job als Buchhalter und sie konnten ohne Probleme umsiedeln. Er war im selben Jahr wie wir geboren und, was für Jenny am Wichtigsten war, er hatte keine Freundin in London zurückgelassen.
Die letzte Information war für meine beste Freundin die erfreulichste. Sie strahlte mit der Sonne um die Wette.
„Tja, dann warten wir mal ab ob du hier vielleicht ein nettes Mädchen kennenlernst.“
Ihre Stimme klang so süß und einschmeichelnd, dass mir schlecht von ihrem plumpen Anmachversuch wurde.
„Ja, vielleicht.“, antwortete Brian und warf mir einen kurzen Blick zu. Kurz genug, dass Phil und Jenny ihn nicht bemerkten.
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