1 ...6 7 8 10 11 12 ...35 Genervt schlurft sie in ihr Ankleidezimmer. Nach langer Suche entscheidet sie sich für eine schwarze Jeans und einen grauen Rollkragenpullover. Mehr Farbe gibt die Situation nicht her.
»Grau ist gut.«
Auf Zehenspitzen schleicht sie auf den Flur und horcht. Im Haus ist es ungewohnt ruhig.
J.J. starrt eine Zeit lang auf die Schlafzimmertür ihrer Großmutter und geht langsam darauf zu. Nur zögerlich betritt sie das verwaiste Zimmer. Das Mädchen vermisst ihre Großmutter so sehr, dass es ihr einen Moment lang die Kehle zuschnürt. Darunter mischt sich ein Hauch von Wut und Unverständnis.
Auch wenn es zeitlebens der größte Wunsch ihrer Großmutter war, gemeinsam mit ihrer großen Liebe in Rosaryon zu leben, kann das Mädchen deren endgültigen Entschluss, einfach alles zurückzulassen, nicht verstehen.
»Großmutter gehört nicht nach Rosaryon. Sie gehört hierher! Hier in dieses Haus!«, schnaubt sie gereizt.
Das Zimmer sieht aus, als würde Oma Vettel jeden Moment hereingeschneit kommen und herumzetern. J.J. schließt die Augen und versucht ihren Duft zu erhaschen. Sie setzt sich auf das große Bett und vergräbt ihr Gesicht in den Händen.
»Broaf hat recht! Ich brauche dich. Aber wenn ich dich jetzt anrufe, kommst du Hals über Kopf hierhergestürmt und machst irgendwelchen Unsinn. Du hast nur noch ein paar Monate Probezeit im weisen Phad. Das darf ich nicht kaputt machen!«, flüstert sie dem leicht überdimensionierten Porträt zu, das auf dem Nachtschränkchen steht. Sie streicht sanft über das Foto und geht hinüber zur Frisierkommode. Erleichtert stellt sie fest, dass die silberne Haarbürste noch da ist. Ganz vorsichtig nimmt sie diese in die Hand und streicht versonnen über den kostbaren Stiel.
»J.J.-Cut. Ich möchte den J.J.-Cut haben«, sagt sie laut und fährt sich fest durchs Haar.
Es dauert vielleicht drei Minuten, bis sie die Haarbürste zufrieden zur Seite legt und die breite Strähne sorgfältig über das rechte Auge zieht.
»Es stimmt also, was Großmutter sagte. Sobald ich eine von ihnen bin, hält der Zauber auch bei mir. Die Frisur sitzt perfekt«, spricht sie verächtlich und schiebt sich samt Hocker von der Kommode weg. Dann verlässt sie eilig das Zimmer. Dicht ans Geländer gedrängt, pirscht sie die Treppen hinunter. Außer dem unheimlichen Windgejammer, das das Haus permanent von sich gibt, kann sie nichts hören.
»Das ist gespenstisch.«
Broaf steht in der Küche und füttert Afrim mit Holz. Der Feuerdämon windet sich schmatzend über die großen Holzscheite und stöhnt zufrieden.
Auch das hat sich verändert. Als J.J. ihn das erste Mal sah, hat er ihr furchtbare Angst eingeflößt und sein Gestank war ekelerregend. Nun kann sie dieses extreme Gefühl neu definieren:
Afrim macht ihr keine Angst. Er erinnert sie nur an etwas, das tief in ihr ruht. Wie eine Art unerfüllte Sehnsucht.
»Vielleicht war ich in einem früheren Leben ja selbst ein solches Geschöpf. Wer weiß das schon? Nachdem, was ich erlebt habe, kann ich nichts mehr ausschließen.«
Als das Mädchen die Küche betritt, krümmt sich der Feuerdämon und stöhnt erbärmlich auf. Der Diener stutzt und dreht sich um. Als er J.J. in der Tür stehen sieht, huscht ein erleichtertes Lächeln über sein Gesicht. Behutsam legt er das Holz zur Seite und geht auf sie zu.
»Gut siehst du aus! Es tut mir leid, dass ich vorhin so grob zu dir sprach. Ich bin im Moment nur selbst etwas hilflos«, entschuldigt er sich.
J.J. drückt seine Hand und setzt sich auf die Eckbank. Auf dem Tisch wartet bereits ein üppiges Frühstück, das ihr großen Appetit macht. Aber wirklich Hunger hat sie nicht. Sie schnappt sich einen kleinen Pfannkuchen und isst ihn langsam. Broaf serviert ihr dazu einen frischen Kamillentee, den sie ebenfalls mühsam schlürft. Die Wärme tut ihr gut. Doch ihr Magen beginnt sofort zu rebellieren, deshalb schiebt sie den Teller wieder beiseite.
Broaf starrt sie konzentriert an und überlegt, wie er am besten ein lockeres Gespräch beginnt. Er will das Mädchen auf gar keinen Fall wieder vertreiben.
»Jezabel, was wollen wir tun? Ich möchte den Teufel nicht an die Wand malen, doch ich befürchte, dass ich heute Nacht die Schreie von Skulks wahrnehmen konnte. Sie werden dich holen, wenn du nicht endlich etwas unternimmst. Darania hat nun das offizielle Recht dich einzuberufen. Auch wenn der Grund dafür eine Frechheit ist. Ich möchte nicht, dass du mich falsch verstehst, aber ich bin nur euer Diener. Ich kann mir vorstellen, dass deine Großmutter sehr verärgert sein wird, wenn sie erfährt, dass ich mich derart in diese Familienangelegenheit eingemischt habe, ohne sie um Rat zu fragen. Ich weiß, dass du nicht nach Xestha willst. Deshalb müssen wir dringend eine Entscheidung treffen!«
J.J. starrt nachdenklich aus dem Fenster. Nervös knetet sie ihre verkrampften Hände und schüttelt verzweifelt den Kopf.
»Keine Lösung. Ich finde einfach keine Lösung, Broaf. Ich will nur, dass es zu Ende ist. Alles! Diese furchtbare Situation, diese endlosen Gedanken und vor allem dieser grausame Schmerz!
Ich weiß, dass du recht hast und ich endlich handeln muss. Aber ich bin wie erstarrt. Vielleicht wäre es wirklich das Beste, wenn wir Großmutter kontaktieren. Aber wir müssen vorsichtig sein! Marla wird es nicht gutheißen, dass sie sich mit mir trifft. Sie weiß bestimmt von dieser Einberufung. Ich bin jetzt eine Gefahr für Rosaryon!«
J.J. schluckt, als sie den Satz beendet, und sieht Broaf hilflos an.
Der Diener beugt sich zu ihr und nimmt ihre Hand.
»Ich werde mir in dieser Hinsicht etwas überlegen. Ich schreibe Vettel umgehend eine Nachricht! Aber ich muss diplomatisch vorgehen. Währenddessen solltest du etwas spazieren gehen. Du warst einen Monat lang nicht an der frischen Luft. Es bringt uns nichts, wenn du noch kränker wirst. Du solltest die letzten schönen Herbsttage genießen. Es wird bald Winter in Neuseeland.«
Er drückt sanft ihre Hand und spurtet eilig hinauf in sein Zimmer.
Als der Monitor hochgefahren ist, überlegt Broaf eine Weile. Er spricht es nicht aus, aber es kostet ihn einiges an Überwindung, Vettel zu schreiben, da er einfach nicht die passenden Worte findet. In den letzten Monaten saß der Diener manchmal stundenlang vor dem Monitor und schrieb ihr sehr lange Briefe, die er anschließend alle schluchzend löschte.
Es ist über eine Woche her, dass er ihr das letzte Mal eine Nachricht schrieb, die er auch absendete. Darin beschränkte er sich allerdings nur auf das Nötigste:
Bewohner wohlauf. Haus deprimiert. Der Winter kommt.
Von J.J. hat er kein Wort erwähnt. Also hat er sie auch nicht wirklich angelogen.
Broaf knetet nervös seine Hände. Nachdem er tief Luft geholt hat, beginnt er zu schreiben:
Vettel!
Ich schreibe dir heute aus einem außergewöhnlichen Anlass.
Ich habe leider nicht die Zeit, dir alles ausführlich zu erklären. Deshalb fasse ich mich kurz:
Ich möchte, dass du Marla um eine außerordentliche Reisegenehmigung bittest.
Der Grund ist folgender:
Du musst dringend nach Havelock kommen!!!
Erbitte dir ein paar Tage Urlaub.
Ich weiß, dass es unhöflich klingt, aber komm bitte allein! Es gilt ein schwerwiegendes weltliches Problem zu lösen!
Broaf
Der Diener drückt hastig die Sendetaste und wartet auf den Boten, der nur kurze Zeit später erscheint und lächelnd ein Plakat in die Höhe hält:
Erfolgreich versendet.
Vor Nervosität knabbert Broaf an den Fingernägeln, während er ungeduldig auf den Bildschirm starrt. Aber der Bote kommt nicht zurück. Der Diener seufzt und steht auf. Eine halbe Stunde lang umkreist er den Schreibtisch und betet. Und das scheint tatsächlich zu helfen, denn plötzlich klingelt das Telefon.
Broaf schreckt zusammen und eilt zum Apparat. Er zupft sorgsam seinen Frack zurecht und räuspert sich kurz.
Читать дальше