1 ...7 8 9 11 12 13 ...35 »Guten Morgen. Hier bei Winterhardt«, meldet er sich übertrieben fröhlich.
Am anderen Ende bleibt es zuerst still, dann erklingt die Stimme, die er so schmerzlich vermisst.
»Hallo Broaf. Ich habe gerade deine Nachricht gelesen und mich heimlich in Konrads Büro geschlichen. Also, ich habe nicht viel Zeit! Was gibt es für ein Problem?«, fragt Vettel in ungewohnt leisem Tonfall nach.
Der Diener schließt kurz die Augen und schluckt.
Seit Vettels Abreise nach Rosaryon hat er nicht mehr mit ihr gesprochen. Es versetzt ihm einen schmerzhaften Stich, als er bemerkt, wie sehr sie ihm tatsächlich fehlt.
»Ich kann dir nicht alles am Telefon erklären, Vettel! Ich habe ein Problem, das einer dringenden Lösung bedarf. Und du bist leider die Einzige, die mir dabei helfen kann. Bitte sei so höflich und frage mich nicht weiter aus. Denn ich werde nicht auf weitere Einzelheiten eingehen! Wirst du Marla fragen?«, stammelt er hilflos.
Am anderen Ende herrscht kurze Zeit Stille. Dann zetert Vettel in gewohnter Manier los.
»Ist einer der Bewohner krank? Oder gibt es wieder Ärger mit Darania?«, brüllt sie verwirrt in den Hörer.
Broaf kneift die Augen zusammen und versucht die richtigen Worte zu finden. Aber Vettel hatte schon immer ein außerordentliches Talent, ihm alles aus der Nase zu ziehen.
»Ich sagte doch, dass du mich nicht ausfragen sollst! Bitte komm so schnell es dir möglich ist nach Havelock. Dann können wir alles in Ruhe besprechen!«
Seine Stimme bricht ab, was Vettel nicht entgeht. Einen Moment lang herrscht Stille. Es ist für beide eine ungewöhnliche, aufwühlende Situation.
»Broaf, hast du etwas von Jezabel gehört? Geht es ihr gut?«, fragt Vettel vorsichtig.
Der Diener reibt sich die Schläfen und lacht gereizt ins Telefon. Da er mit Worten nicht weiterkommt, versucht er es nun über den Klang seiner Stimme.
»Vettel, es ist wirklich dringend! Bitte komm sofort nach Havelock!«, brüllt er sie an.
Seine Stimme ist ungewohnt zornig, und um seiner Not Nachdruck zu vermitteln, knallt er den Hörer einfach auf. Broaf lässt seine Hand noch einen Moment lang auf dem Telefon liegen und senkt erschöpft den Kopf. Er wartet einige Minuten, aber Vettel ruft nicht zurück.
»Ich hoffe, sie hat es verstanden«, raunt er verzweifelt in das Zimmer.
Bekümmert sieht er sich um und geht zu seinem Nachtschränkchen. Langsam öffnet der Diener die oberste Schublade und starrt auf den Inhalt. Verzweifelt schüttelt er den Kopf und schließt sie wieder.
Aber der Druck ist stärker. Also öffnet er sie erneut und zerrt hastig die kleine Flasche heraus, die er voller Verachtung betrachtet. Seine Hände zittern, genau wie seine Knie.
Die Flüssigkeit brennt sich wie Feuer durch seine Kehle. Er hustet und wischt sich angewidert den Mund ab. Aber die Wärme, die augenblicklich seinen Körper durchströmt, beruhigt ihn und holt ihn für einen künstlichen Moment aus seiner Ohnmacht. Lässt ihn seinen eigenen Schmerz verdrängen.
Der Diener atmet tief durch.
»Es muss etwas passieren! Wir benötigen alle deine Hilfe, Vettel! Ich brauche dich ebenso!«, flüstert er mit tränenerstickter Stimme.
Behutsam legt Broaf das Fläschchen zurück in den Schrank und nimmt sich ein Pfefferminzbonbon. Dann stellt er sich vor den Spiegel und rückt seinen Frack zurecht. Er kämmt sich einen akkuraten Mittelscheitel und lächelt gekünstelt. Hoffnungsvoll starrt er noch einmal auf das Telefon, bevor er hinunter in die Küche geht.
Dort sitzt J.J. angespannt auf der Eckbank und wartet. Als der Diener hereinkommt, lächelt sie ihn schüchtern an. Inzwischen hat Lincoln sich zu ihr gesellt und sitzt nun ebenfalls mit großen, erwartungsvollen Augen auf ihrem Schoß.
Broaf räuspert sich kurz und geht festen Schrittes zur Kochinsel.
»Guten Morgen, Lincoln! Ich habe gerade mit Vettel gesprochen und sie gebeten, ein paar Tage hierherzukommen! Leider habe ich noch keine direkte Antwort von ihr bekommen. Deshalb können wir jetzt erst einmal nur abwarten!«, sagt er knapp.
Als der kleine Halbtagshund Oma Vettels Namen hört, hechelt er ganz aufgeregt und rennt zu Broaf.
J.J. sieht den Diener mit großen Augen an.
»Was hast du ihr gesagt?«, fragt sie verlegen.
Broaf antwortet, ohne sie dabei anzusehen:
»Eigentlich habe ich ihr gar nichts gesagt! Ich denke, das ist genau das, was sie letztendlich zwingen wird, zügig hierherzukommen!«
Das Mädchen stutzt und sieht ihn eindringlich an. Obwohl Broaf lächelt, bemerkt sie seine Unsicherheit. Das Mädchen fasst sich an den Bauch und versucht den unangenehmen Druck im Magen zu unterdrücken. Hastig schlürft sie ihren Tee und schnappt sich die Zeitung, die neuerdings jeden Morgen auf dem Tisch liegt.
Es ist nicht so, dass J.J. das Geschehen in der Welt nicht interessiert, aber für gewöhnlich liest sie eher selten die Zeitungen, da heutzutage die wichtigsten Neuigkeiten durch das Internet oder den Fernseher verbreitet werden.
Das Mädchen überspringt gelangweilt die erste Seite und liest sich dann einen interessanten Sportartikel durch. Am regionalen Teil bleibt sie schließlich hängen. Das Lesen der Geschichten anderer Menschen entspannt sie und nimmt ihr für einen Moment die Angst. Jetzt versteht sie, warum Broaf neuerdings jeden Morgen die Zeitung liest. Es lenkt ihn ab.
J.J. ist gerade in einen Artikel über das bevorstehende Dorffest vertieft, als ein schriller Ton sie hochschrecken lässt. Verängstigt lässt sie die Zeitung fallen und hält sich beide Ohren zu. Ihr Körper verkrampft und beginnt unkontrolliert zu zittern, während sich ihr Atem in schweren Zügen aus ihrem Körper pumpt. Sie kneift die Augen zusammen und beißt sich auf die Lippen.
»Skulks! Sie holen mich«, presst sie panisch hervor.
Broaf eilt zu ihr und fasst sie beruhigend an der Hand.
»Keine Angst, Jezabel! Es ist alles in Ordnung. Du bist in Sicherheit! Das sind nicht die Skulks. Das ist der Signalton meines Monitors! Ich habe ihn eingebaut, da ich nicht die ganze Zeit vor dem Bildschirm sitzen und auf Nachrichten von Vettel warten wollte. Deshalb habe ich etwas gebastelt, das mir sofort Bescheid gibt, wenn ich eine Nachricht bekomme. Dieses Signal ertönt übrigens auch, wenn ein neuer Bewohner eintrifft!«, sagt er stolz.
Als er bemerkt, dass J.J. eine regelrechte Panikattacke hat, küsst er sie sanft auf die Stirn und nimmt vorsichtig ihre Hände von den Ohren.
»Es ist alles gut, kleine Prinzessin! Niemand wird dich holen. Ich denke, dass vielen Wesen überhaupt nicht bewusst ist, welche Auswirkungen die Ereignisse der letzten Monate auf dich haben«, flüstert er betroffen und drückt das Mädchen fest an sich.
Nur langsam kann J.J. sich aus ihrer Starre lösen. Trotz der beruhigenden Worte des Dieners sieht sie noch einmal panisch in den Garten. Erst als sie sicher ist, dass dort keine riesigen Spinnen auf sie lauern, kann sie sich wieder entspannen.
Broaf legt ihr ein kühles Tuch auf den Nacken und eilt aus der Küche. Aufgeregt rennt er in sein Zimmer und setzt sich vor den Monitor. Bevor er die Nachricht öffnet, holt er noch einmal tief Luft.
Tatsächlich! Oma Vettel hat ihm zurückgeschrieben!
Es ist sehr unhöflich, einfach aufzulegen, mein lieber Broaf! Da ich dich jedoch fast mein ganzes Leben lang kenne, deute ich dies als dringenden Notruf!
Ich habe deshalb bereits mit Marla gesprochen und die Erlaubnis bekommen, für drei Tage nach Havelock zu reisen. Sie war nicht sehr erfreut darüber, dass ich einfach in die Sitzung des Rats der Weisesten gestürmt bin. Na ja, mehr als eine weitere Verwarnung kann das aber nicht geben.
Mit Konrad habe ich ebenfalls gesprochen und ihm erklärt, dass Iris ein dringendes Problem hat. Er war nicht böse, dass er nicht mitkommen kann, da er im Moment in Rosaryon selbst sehr viel zu tun hat. Humptypuff hat bereits alle nötigen Papiere und Kleider zusammengepackt. Ich reise umgehend ab und werde noch heute Nacht bei euch eintreffen!
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