Nun, ich kann behaupten, dass sie ebenfalls unrecht hatte. Meine Erinnerungen verblassen nämlich nicht und der Schmerz bleibt nicht nur, er wird täglich größer!
Es gibt so viele Fragen, die ich dir stellen wollte und so viele Dinge, die ich dir sagen muss. Aber das kann ich nicht mehr. Das ist grausam und ich halte dieses Gefühl kaum aus. Es gab eine Zeit, da bist du mir wenigstens noch in meinen Träumen erschienen. Selbst das geschieht nicht mehr.
Ich bin einsam, Linus. Auch wenn du mir gesagt hast, dass dies nur ein Wort der Menschen sei. In diesem Moment bin ich einer. Ein Mensch mit rabenschwarzem Blut, in einem verwunschenen Haus.
Aber ich bin keine dunkle Hexe! Ich wollte das nicht.
Nachdem sich in den ganzen Wochen davor alles um diesen verdammten Vergessenszauber gedreht hat, war es für mich eine logische Schlussfolgerung, dass ich ihn in diesem Moment bei dir anwende.
Ich wollte mein Leben retten und dich davor schützen, dass du zu Stein wirst. Ich habe nicht darüber nachgedacht, dass du kein Lythargium hast, das ich dir bringen kann.
Ich sehe keinen Ausweg. Aber ich suche nach einer Lösung. Ich werde dich von diesem Fluch befreien! Koste es, was es wolle!
Ich wünsche mir so sehr, dass ich noch einmal mit dir reden könnte!
Jezabel
PS: Du hast mir versprochen, dass du immer auf mich aufpassen wirst! Du hast es versprochen!!! Aber du hast mich auch allein gelassen! Und wer passt jetzt auf mich auf? Du hast mich auch belogen!!! Ich hasse dich!,
tippt sie wütend hinterher.
Sie schluchzt und löscht den letzten Satz, bevor sie auf die Sendetaste drückt. Trotz des Wissens, das er ihr nicht antworten kann, wartet sie auf den Boten mit den geflügelten Schuhen. Dieser kommt auch prompt durch den Monitor geflogen, hält aber nur lächelnd die Eingangsbestätigung in die Höhe.
Nach einer Stunde findet sie sich damit ab, dass sie keine Antwort bekommen wird, und lässt den Monitor in der Tischplatte versinken.
Dann geht sie in ihr Ankleidezimmer und setzt sich wieder in den Sessel. Stundenlang denkt sie krampfhaft über die Gespräche mit ihrer Großmutter nach. Aber egal wie oft sie das tut, sie findet keinen Hinweis, wie man einen Vergessenszauber bei einem Wesen rückgängig machen kann, das keinen Gedankenstein besitzt. Sie hat es auch schon mit Visualisierung versucht. Aber das Bild von Linus, der mit hassverzerrter Fratze fluchend auf sie zukommt, unterbricht jedes Mal ihre Konzentration. Ihre Adern schwellen an und der Druck im Bauch wächst. Noch unterdrückt sie diesen Impuls, aber das kostet Kraft. Viel zu viel Energie, die sie im Moment nicht hat. J.J. weiß nicht, wie lange sie das noch schafft.
Sie legt ihren Kopf auf die Knie und weint.
Wie lange soll das noch so gehen? Irgendwann muss sie etwas unternehmen.
»Aber nicht jetzt. Ich bin so müde«, raunt sie erschöpft, während sie in die Dunkelheit starrt und ihre Gedanken umzulenken versucht.
Es gelingt ihr nicht. Aber es verbraucht so viel Kraft, dass sie irgendwann vor Erschöpfung einschläft. Das ist ihr Ziel und mittlerweile ein allabendliches Ritual.
Wie viele Abende sie das inzwischen schon getan hat, weiß sie nicht. Zeit hat für das Mädchen keine Bedeutung mehr. J.J. gleitet von einem Dämmerzustand in den nächsten und mittlerweile ist sie viel zu schwach, um nach Lösungen zu suchen. Nur noch der erzwungene Schlaf rettet sie aus dieser furchtbaren Realität.
Manchmal hat sie sogar schöne Träume. Dann ist sie in Marton bei Pippa und Zoé. Die meisten sind aber einfach nur schrecklich. Da ist sie wieder auf der Deponie oder in der Arena. Und dann gibt es noch die ganz Grausamen, in denen sie in der Küche hinter der Kochinsel kauert, Rosinante ruft, diese in ein Zepter verwandelt und den Vergessenszauber NICHT ausspricht. Linus hört auf zu fluchen und kommt ihr lächelnd entgegen. Alles ist gut.
Dann wacht sie auf und schreit. So wie jetzt auch.
Broaf packt J.J. am Arm und schüttelt sie kräftig.
»Jezabel, wach auf! Du hast schlecht geträumt! Außerdem musst du endlich etwas essen! Du kannst nicht nur in diesem Bett liegen und Trübsal blasen!«
Der Diener ist äußerst aufgebracht und reißt ihr grob die Bettdecke weg.
J.J. öffnet langsam die Augen. Als sie jedoch realisiert, dass sie noch in Havelock ist und immer noch keine Lösung gefunden hat, schmeißt sie sich das Kopfkissen wieder über das Gesicht. Das macht den Diener richtig wütend. Fluchend zerrt er es zur Seite und schnaubt.
»Ich denke, es reicht jetzt! Das geht nun seit fünf Wochen so. Ich habe dir also sehr lange Zeit gelassen, um zu dir zu kommen. Die ich übrigens nicht hatte, sondern damit verbracht habe, Ausreden über deinen Verbleib zu erfinden. Aber jetzt reicht es mir! Jezabel, du musst dich fangen! Ich bin es wirklich leid, mir täglich neue Lügen für Mrs. Rogan, Pippa, Vettel und den Hexenrat ausdenken zu müssen. Entweder du stellst mir jetzt sofort deinen Plan vor, oder ich werde handeln! So geht es auf jeden Fall nicht weiter!!!«
Broaf redet sich entschlossen in Rage und starrt zornig auf das Kissen, das sich J.J. mittlerweile auf die Ohren drückt.
Das bringt den Diener vollends aus der Fassung. Er packt das Kissen und schmeißt es fluchend in die Ecke. Dann stellt er sich mit verschränkten Armen vor das Mädchen und schnaubt, da er eine ungewohnt negative Energie in sich aufsteigen bemerkt. Aber J.J. bleibt provokant. Sie nimmt nun ihre Bettdecke und zieht sich diese bis über die Haarspitzen.
»Kannst du mich nicht einfach in Ruhe lassen?«, schreit sie ihn wütend an.
Da verliert der Diener zum allerersten Mal seine Haltung. Er stemmt kampfbereit die Hände in die Hüfte und stampft wütend mit den Füßen auf, sodass für einen kurzen Moment der Boden vibriert.
Vielleicht ist es diese ungewohnte Situation, vielleicht eine lustige Erinnerung. Ohne es zu wollen, muss J.J. nun kichern. Denn Broaf hat sich eigentlich immer im Griff und sie kann sich nicht daran erinnern, dass er auch nur ein einziges Mal ausfällig oder richtig wütend geworden wäre. Die Art, wie er jetzt mit ihr redet und wie er sich verhält, erinnert sie einfach zu sehr an ihre Großmutter.
Den Diener scheint das allerdings nicht zu amüsieren. Er dreht sich wütend weg und geht entschlossen zur Tür.
»Zehn Minuten! Ich gebe dir exakt zehn Minuten! Wenn du dann nicht unten in der Küche bist, werde ich handeln!«
Kapitel 2
Ein Notruf nach Rosaryon
J.J. starrt an die Decke und denkt nach. Als sie im Flur erneut das verzweifelte Fluchen des wütenden Dieners hört, schiebt sie ihre Bettdecke zur Seite und setzt sich langsam auf.
Ihr ganzer Körper schmerzt, da sie sich in den letzten vier Wochen kaum bewegt hat. Aber immer wenn sie loslaufen wollte, stockte ihr Körper und verkrampfte sich. So als wüsste er nicht, wohin er gehen soll. Dieses Haus ist vollgepackt mit erdrückenden Erinnerungen, denen das Mädchen aus dem Weg gehen wollte. Also hat sie sich in ihrem Bett verkrochen und ist irgendwann einfach liegen geblieben.
J.J. sieht an sich herab und schüttelt den Kopf. Was sie sieht, gefällt ihr ganz und gar nicht. Ihr Körper ist ausgezehrt und ungepflegt. Der graue Jogginganzug, den sie seit Wochen trägt, klebt regelrecht an ihrer Haut.
Langsam steht sie auf und schlurft ins Badezimmer. Vor dem Spiegel bleibt sie stehen und betrachtet sich argwöhnisch.
»Wie siehst du nur aus? Linus hätte sich bestimmt nicht so gehen lassen«, raunt sie sich ermahnend zu und schnappt gereizt nach ihrer Zahnbürste.
Es kostet sie viel Überwindung, sich diesen normalen, alltäglichen Dingen hinzugeben. Sie wäscht sich mehrmals die Hände und betrachtet sie abfällig. Aber die Schuldgefühle wollen einfach nicht vergehen.
Anschließend nimmt sie eine ausgiebige Dusche und versucht sich einigermaßen ansehnlich herzurichten. Aber auch das will ihr nicht gelingen. Ihre Haare sind inzwischen viel zu lang und hängen ungepflegt herab.
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