»Es ist immer noch geschockt. Das Haus, meine ich. Diese vielen Veränderungen, weißt du. Erst verlieren wir Diggler und Flick, dann verlässt uns Vettel, um mit Konrad in Rosaryon zu leben und dann noch dieser furchtbare Moment, als du … Ich meine, als Linus …« Der Diener hält kurz inne und schluckt. »Egal, wir können diese Dinge nicht ungeschehen machen. Aber ich gebe täglich mein Bestes, um den Bewohnern ein gutes Heim zu bieten. Das braucht wohl alles noch seine Zeit«, beendet er schnell seine Rede.
Er räuspert sich, während er sich verlegen umsieht. Ein paar lose Blätter wehen ihm dabei langsam vor die Füße, die er genervt packt und hektisch in seiner Jackentasche verstaut. J.J. bemerkt, dass dort schon einige drinstecken.
»Anscheinend hat Broaf das Haus überhaupt nicht mehr im Griff.«
J.J. nimmt ihn an die Hand und horcht in Richtung des Esssalons. Aber sie kann nichts hören. Keine Stimmen, kein Gebrabbel und auch kein Gezeter. Der Diener scheint ihre Gedanken zu erahnen.
»Ich habe ihnen noch nichts gesagt. Mrs. Rogan rief gestern Abend hier an und wollte sofort mit Vettel sprechen. Ich sagte ihr, dass deine Großmutter für eine Weile verreist und ich währenddessen dein Vormund sei. Daraufhin erzählte sie mir ganz aufgeregt von dem Brief, den du Zoé hinterlassen hast, und dass du mit Sack und Pack fortgelaufen seist. Sie machen sich wirklich sehr große Sorgen. Deine Freunde und Pippa haben noch bis spät in die Nacht nach dir gesucht. Ganz schönes Chaos, was du da verbreitet hast, meine Liebe.
Aber ich dachte mir gleich, dass du hierher kommst. Wo solltest du auch sonst hingehen? Ich denke, es war längst überfällig. Es geht dir überhaupt nicht gut, oder?«
J.J. sieht betroffen zu Boden und schluckt kräftig. So wie sie es in den letzten Monaten immer getan hat, wenn sie jemand gefragt hat, wie es ihr gehe. In Marton konnte sie mit niemandem über die furchtbaren Geschehnisse reden. Zoé hat nicht einmal nachgefragt, was es mit dem Stein auf sich habe. So als hätte sie es einfach vergessen. Sie war vielmehr an J.J.s neuer Frisur interessiert als an ihren seltsamen Abenteuern.
Hier in Havelock ist das allerdings anders. Hier kann sie darüber reden. Sie lehnt ihren Kopf an Broafs Arm und schüttelt langsam den Kopf. Der Diener streicht ihr sanft über das Haar.
»Ich weiß, ich weiß. Mir geht es genauso. Eigentlich bin ich froh, dass du hier bist! Es war eine dumme Hoffnung, dass wir nach diesen fürchterlichen Ereignissen einfach weitermachen können, als wäre nichts passiert. Ich mache uns jetzt erst einmal etwas Richtiges zu Essen. Anschließend überlegen wir uns, wie es weitergeht.«
J.J. zuckt leicht zusammen und stockt. Als sie das letzte Mal diese Küche betreten hat, wollte Linus sie verfluchen und dann ist es passiert. Diese Katastrophe, die sie seitdem verfolgt, ihr keine Ruhe gönnt und sie nicht mehr schlafen lässt. Ängstlich sieht sie den Diener an und schüttelt den Kopf. Aber Broaf lächelt sie verschmitzt an und zeigt zwinkernd zur Küche.
Da sie weiß, er der rücksichtsvollste Mensch auf Gottes Erden ist, geht sie langsam hinter ihm her. Mit gesenktem Kopf betritt sie die Küche und rennt zur Eckbank, ohne sich umzusehen. Sie setzt sich auf ihren Lieblingsplatz und starrt aus dem Fenster. Broaf stellt sich vor die Eckbank und stemmt die Hände in die Hüfte.
»Also, wirklich! Da haben wir uns solche Mühe gegeben und du siehst es dir nicht einmal an!«, spöttelt er und imitiert dabei gekonnt Oma Vettels Zeterton.
J.J. dreht sich um und staunt.
Broaf hat die Küche renoviert! Er hat sie sogar neu eingerichtet. Im Gegensatz zu den urigen Möbeln aus Oma Vettels Zeiten stehen nun sehr moderne, weinrote Möbel mit Hochglanzfronten an der Wand. Der dreiflügelige Kühlschrank wurde durch ein zweitüriges, schwarzes Modell ersetzt, was J.J. doch etwas schade findet.
Broaf eilt hinüber und streicht sacht über die polierte Oberfläche.
»Durch Vettels Auszug und deinen Internatsaufenthalt sind wir ein paar Bewohner weniger im Haus. Die Feste, die sonst monatlich stattfanden, gibt es seit eurem Auszug auch nicht mehr. Ich dachte deshalb, dass ein zweitüriges Modell für mich und die restlichen Bewohner ausreichen würde. Also, Jezabel, worauf hast du Appetit?«, fragt er grinsend.
Das Mädchen geht hinüber und drückt auf das moderne Glasdisplay. Gespannt wartet sie, was passiert. Als die freundliche Stimme sich meldet, bestellt sie Hühnchenburger mit Pommes frites. Der Diener verdreht die Augen und schnalzt mit der Zunge. J.J. befürchtet nun, dass sie etwas verkehrt gemacht hat, und öffnet hastig die Tür.
»Puh! Ist wohl ein neueres Modell? Dieses Mal hat er die richtige Anzahl serviert«, stellt sie erleichtert fest.
»Ja, in der Tat! Das ist das allerneueste Modell! Den habe ich mir geleistet. Er hat einen hochempfindlichen Sensor, der die genaue Anzahl der sich im Raum befindlichen Wesen erfasst. Somit wird eine grobe Verschwendung von Nahrungsmittel vermieden«, erklärt der Diener mit stolz geschwellter Brust.
J.J. nimmt sich schnell ihr Essen heraus und setzt sich auf die Eckbank. Lincoln und Broaf sitzen ihr gegenüber und starren sie erwartungsvoll an.
»Was hast du jetzt eigentlich vor? Sollen wir vielleicht Oma Vettel kontaktieren?«, fragt der Halfie zögerlich.
J.J. legt ihren Burger beiseite und schüttelt energisch den Kopf.
»Nein! Ich möchte euch bitten, Großmutter erst einmal nicht zu sagen, dass ich hier bin! Ich weiß, was ich da von euch verlange, aber ich brauche ein paar Tage Ruhe. Broaf, vielleicht könntest du Mrs. Rogan sagen, dass wir einen Trauerfall in der Familie haben und ich deshalb eine Zeit lang zu Hause bleiben werde. Das müsste die Gemüter erst mal besänftigen. Ich werde mir etwas überlegen. Gebt mir bitte ein paar Tage dafür Zeit. Ich muss nachdenken.«
Lincoln und Broaf sehen sich betrübt an und nicken ihr stumm zu.
J.J. steht auf und geht zur Tür.
»Die Küche sieht wirklich sehr schön aus! Danke, dass ihr das gemacht habt! Ich bin froh, dass ich wieder bei euch bin!«, sagt sie müde und geht hinauf in ihr Zimmer.
Die Gemälde, die extra schief an der Wand neben der Treppe hängen, beachtet sie nicht und sie bleibt auch nicht vor dem Schlafzimmer ihrer Großmutter stehen. Als sie ihr Zimmer betritt, verschließt sie hektisch die Tür und schmeißt ihre Tasche in die Ecke. Fluchend wirft sie sich auf ihr Bett und weint.
Alles, was sie in den letzten Wochen unterdrücken musste, drängt sich jetzt mit aller Macht nach außen. Jedes unterdrückte Gefühl, jede untersagte Erklärung, jeder Gedanke, den sie mit einer dicken Mauer ferngehalten hat. Wütend schlägt sie in den Kissenberg. Die Trauer um Diggler und Flick, der Umzug ihrer Großmutter, der Hass auf Darania und die unaufhörliche Sehnsucht nach Linus zerreißen sie innerlich. Es scheint, als würde es nichts auf dieser Welt geben, was sie trösten könne.
Erst als ihre Augen dick geschwollen und ihre Kehle trocken ist, schleppt sie sich in ihr Badezimmer und nimmt eine Dusche. Sie dreht das Wasser heiß auf und schrubbt ihren Körper, in der Hoffnung, dass dieses verfluchte schwarze Blut wieder verschwindet.
»Ich will das nicht! Ich will dieses Schicksal nicht!«
Außer sich vor Wut schmeißt sie die Bürste in die Ecke und schreit, bis sie erschöpft zusammensackt, weil ihr Kreislauf rebelliert. Als sie bemerkt, dass ihre Adern gefährlich anschwellen und dunkle Verse in ihrem Inneren hochkochen, dreht sie das Wasser eiskalt auf und setzt sich wimmernd unter den Strahl. Erst als ihre Lippen schon leicht bläulich sind, hat sie sich wieder etwas beruhigt.
Sie geht ins Ankleidezimmer und läuft wie ferngesteuert durch die schier endlosen Kleiderreihen. Am Ende schnappt sie sich einen grauen Jogginganzug und lässt sich erschöpft in einen der Loungesessel fallen.
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