Darania stöhnt siegessicher auf. Hämisch grinsend hält sie einen schwarzen Helm in die Höhe, auf dem ein Zopf aus geflochtenem, grauem Haar befestigt ist.
Zwei Gluggs flitzen zum Altar und heben den Kopf des Dieners an. Lachend streift Darania den schweren Helm darüber und verschließt den Riegel. Dann legt sie die Haarsträhne sorgfältig zur Seite.
Broaf atmet hastig. Er unterbricht sein Mantra und öffnet entsetzt die Augen. Er kann kaum etwas sehen, da sein Sichtfeld nun auf ein paar kleine Schlitze beschränkt ist. Der Diener versucht zu begreifen, was diese Hexen mit ihm vorhaben. Aber die Geräusche aus dem Zeremoniensaal donnern nur schmerzhaft durch den massiven Helm, der seinen Kopf ganz und gar umschließt. Alles klingt dumpf und verzerrt.
Doch dann ist es plötzlich ganz still im Raum.
Broaf schließt die Augen und versucht sein Mantra fortzuführen. Aber er kann sich nicht konzentrieren, da ihn diese unheimliche Situation ablenkt. Er hört, wie Darania Furiase etwas zuruft. Anschließend, wie die Tür zum Zeremoniensaal aufgeschlagen wird und Onstasia abscheulich lacht. Ein scheußliches Klappern, als ob jemand ein Messer wetzen würde, begleitet von seltsamen Schrittlauten … Sie klingen ungleichmäßig und schnell.
Furiase beginnt erneut dunkle Formeln zu murmeln, während Hystasia ganz monoton immer wieder die gleichen Worte wiederholt. Darania steht neben dem steinernen Altar und kichert.
Dann beginnen die Gluggs zu kreischen.
Der Diener zuckt zusammen.
»Etwas berührt meine Beine. Ich kann es atmen hören!«
Dieses unheimliche Klappern wird lauter.
»Es steht direkt neben mir!«
Die Oberhexe beginnt nun hysterisch zu lachen.
Broaf schließt die Augen und denkt an Vettel. Mit letzter Kraft versucht er sich auf ihr Gesicht zu konzentrieren.
Leise summt er das eine Mantra. Kurz bevor er die Besinnung verliert, hört er noch einen schrillen Schrei, schließlich ein grausames Knacken. Aber der Diener spürt nichts mehr. Er ist hinübergeglitten …
Sechs Monate zuvor …
Sehr geehrte Hexe Jezabel!
Mit großer Freude haben wir erfahren, dass du einen unwiderruflichen Zauber aus reinem Eigennutz ausgesprochen hast!
Laut unserem magischen Anzeiger wurde am zehnten Januar dieses Jahres, unter Benutzung des Zepters der Familie von Winterhardt, ein Zauber gegen ein anderes Wesen ausgesprochen. Und dies auch noch in der realen Welt!
Da Vettel bereits am Morgen des besagten Datums ihr Amt und ihre Zugehörigkeit zum dunklen Phad niedergelegt hat, gilt es als bewiesen, dass du diesen Zauber vollendet hast!
Dies bedeutet nach dem Gesetz von Xestha, dass du dich für den dunklen Phad entschieden hast.
Du bist damit offiziell eine Hexe des dunklen Phads!
Wir bitten dich deshalb, dich innerhalb der nächsten sieben Tage im Amtsgebäude von Xestha zu melden!
Ein Visum ist nun nicht mehr nötig.
Wir gratulieren dir zu dieser außerordentlichen Leistung!
Herzlichst
Der Hexenrat
Heimtückisch, wie ein Blitz aus azurblauem Himmel, brach die Nachricht über J.J. Smith herein. Jedes Wort, jeder verdammte einzelne Buchstabe hat sich in ihr eingebrannt und lässt ihr seitdem keine Ruhe mehr. Was sie auch tut, ob sie atmet, es unterlässt, ob sie rennt, kriecht, schreit oder schweigt. Sie sind da und bleiben. Das ist kein böser Traum, aus dem sie erwachen kann!
»Du bist damit offiziell eine Hexe des dunklen Phads! Wir gratulieren dir zu dieser außerordentlichen Leistung!«
»Nein! Ich will das nicht. Das ist nicht richtig!«, schreit sie immer wieder.
Sie rennt los, versucht vor der Konsequenz ihrer Verzweiflungstat zu fliehen. Doch wohin soll sie gehen?
Es gibt im Moment keinen Ort, an dem sie wirklich sicher ist. Die verräterischen Spuren der letzten Monate scheinen überall verstreut zu sein. Außer in ihrem Internat in Marton. Dort hatte sie der Schatten ihrer Bestimmung noch nicht eingeholt. Aber auch da kann sie nicht mehr bleiben. Es hat sich zu viel verändert.
Ihr Blut, das in der Vergangenheit nur schwach pulsierte, hatte sich in den letzten Wochen in einen reißenden Strom aus verzweifelter, boshafter Energie verwandelt. Viel zu gefährlich für ihre Freunde. Viel zu stark, um noch länger unentdeckt bleiben zu können.
Deshalb hat J.J. das Internat heimlich verlassen. Sie ist einfach losgezogen, ohne sich zu verabschieden. Was sollte sie ihren Freunden oder Pippa auch erzählen? Etwa die Wahrheit? Dass sie einem Familienclan des dunklen Zauberreichs angehört, in dem sie die lang ersehnte schwarze Prinzessin ist? Dass sie einen Jungen verflucht hat, der seitdem verschwunden ist, ihr Hexenexamen dafür jedoch mit »Hervorragend« bestanden hat? Dass sie jede Minute Angst hat, riesige fliegende Monsterspinnen könnten sie holen und auf die Deponie verschleppen?
»Das war eine Falle! Darania hat mich ausgetrickst. Aber mein Blut …«
Angewidert starrt J.J. auf ihren Zeigefinger.
In den letzten Stunden hat sie unzählige Male hineingestochen, zugesehen, wie die zähe dunkle Masse herausdrängte, die Öffnung sich aber sofort wieder verschloss. Ihr Verstand will das einfach nicht akzeptieren.
Sie vergräbt die Hände tief in ihren Jackentaschen und läuft weiter Richtung Süden.
Seitdem J.J. das Internat fluchtartig verlassen hat, schleppt sie sich quer über die Nordinsel Neuseelands. Das Mädchen will zur Fähre, die sie zurück nach Havelock bringt.
Stundenlang ist sie durchgelaufen. Ohnmächtig vor Angst und ohne Ahnung, wie es jetzt für sie weitergehen soll.
»Was ist das für eine bescheuerte Welt? Ich war ein ganz normales Mädchen, das vielleicht irgendwann mal davon träumte, eine verwunschene Prinzessin zu sein. Das ist nichts Schlimmes!
Aber eine schwarze Prinzessin im dunklen Zauberreich? Das ist doch lächerlich! Sie haben mich alle belogen! Sie haben mir erzählt, dass ich frei entscheiden könne, wo ich mein Leben verbringen möchte. Und ich hatte mich entschieden! Ich wollte bei meinen Freunden in Marton bleiben!
Ich gehöre nicht in diese andere Welt, zu diesen abscheulichen Kreaturen! Auch wenn Vauns Prophezeiung eintausend Mal etwas anderes behauptet! Ich will das nicht! Ich will wieder normal sein! Schlicht, ohne Magie und Prinzessinnenstatus. Ohne dieses ekelhafte schwarze Blut!«
Mit voller Wucht schlägt sie einen Ast zur Seite, der ihr die Sicht versperrt. Besser das, als unkontrollierte dunkle Magie in der realen Welt. Es kostet sie viel Kraft, ihr Blut unter Kontrolle zu halten. Der innere Druck ist stark. Das Verlangen, ihrer Wut Luft zu machen, steigt mit jedem Meter, den sie zurücklegt. Es ist ihr kaum noch möglich, es zu verdrängen. Noch mehr Probleme kann sie sich allerdings nicht leisten.
»Was soll ich jetzt tun? Hat mich irgendjemand gefragt, ob ich das alles will? Genau! NIEMAND!
Zauber aus Eigennutz?! Ich hatte doch gar keine andere Wahl! Das ist ein gewaltiger Unterschied, meine liebe Darania! Er wollte mich verfluchen, mich töten, weil ihr ihn manipuliert habt! Hätte ich es nicht getan, wäre er innerhalb einer Stunde zu Stein geworden! Das ist also Eigennutz?
Ihr dämonischen Weiber habt mir alles geraubt! Meine Träume, mein Leben, ihn. Und jetzt wollt ihr mich auch noch? NEIN! NIEMALS!«, schreit sie den Baumstamm mit hasserfüllter Miene an. Mit kräftigen Tritten bestätigt sie ihre Entschlossenheit und hört erst auf, als die Rinde birst. Überall, in jeder Wolke, jedem Baum und Busch sieht sie das Gesicht Daranias. Das triumphierende Lachen der Oberhexe, die sie schon ihr Leben lang jagt, verfolgt sie bis in ihre Träume.
»Ich hasse dich! Du wirst mich niemals kriegen! Du widerliche, alte Fratze! Ich bin nicht wie du! Ich gehöre ins Licht, nicht in die ewige Dämmerung, mit ihrer verkorksten Moral.
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