Na gut. Wenn es euch nichts ausmacht, würde ich gern zum Strand gehen! Ich weiß, es ist Herbst und die See ist rau. Aber ich will ja auch nicht schwimmen oder picknicken, sondern einfach nur herumlaufen und ein paar Muscheln sammeln! Wäre das für dich in Ordnung?«, fragt sie schüchtern.
Oma Vettel nickt hocherfreut und dreht sich zu Broaf.
»Würdest du sie am Strand absetzen?«, fragt sie erleichtert.
»Es wäre mir ein außerordentliches Vergnügen«, antwortet der Diener.
Broaf ist froh, dass J.J. sich langsam zu erholen scheint. Auch ihm ist nicht entgangen, dass die Anwesenheit Vettels dem Mädchen guttut.
Na ja, nicht nur ihr. Alle Bewohner, einschließlich seiner Person, blühen seit Oma Vettels Eintreffen regelrecht auf. Dass dieser Besuch nur sehr kurz ist, trübt die Freude allerdings ein wenig. Trotzdem summt der Diener ein fröhliches Lied und beginnt umgehend mit den Vorbereitungen für die gemeinsame Fahrt ins Dorf.
J.J. steht derweil in ihrem Zimmer und denkt nach. Sie weiß nicht genau, warum sie zum Strand wollte. Draußen ist es windig und sehr kalt. Richtig ungemütlich. Okay, sie hatte keine Lust auf weitere Diskussionen mit ihrer Großmutter, aber dieser Impuls kam so plötzlich. »Meer!«, blitzte es vor ihrem geistigen Auge auf, als ihre Großmutter sie fragte, ob sie mit ins Dorf fahren wolle.
»Ich habe mich lange genug versteckt. Außerdem muss ich meine Gedanken ordnen und mir überlegen, wie ich Großmutter behutsam beibringe, dass ich mich noch nicht aus dem Register des dunklen Phads löschen lassen möchte. Ich denke, dass sie das nicht verstehen wird. Aber ich möchte keine Entscheidungen aus schlechtem Gewissen treffen. Es ist mein Leben! Mein Blut! Wenn sich im Nachhinein herausstellt, dass es ein Fehler war, muss ich dann wenigstens nicht wieder irgendjemanden hassen, den ich eigentlich sehr liebe. Es ist eben alles sehr kompliziert.«
Sie geht in ihr Ankleidezimmer und zieht sich warme Kleidung an. Dann packt sie noch schnell ihr Tagebuch in die Tasche und hüpft die Treppe hinunter. Plötzlich ist sie ganz aufgeregt und freut sich auf den spontanen Ausflug.
Oma Vettel und Broaf warten in der Küche und albern derweil etwas herum. Das Mädchen beobachtet amüsiert, wie sich ihre Großmutter haarklein jedes Detail des neuen Kühlschranks erklären lässt. Mit entzücktem Gesichtsausdruck steht die alte Dame neben Broaf und lässt alle zwei Sekunden ein lang gezogenes »Ohhh« los, das von einem anerkennenden Schulterklopfer gekrönt wird. Der Diener ist sichtlich stolz, dass ihr der Kühlschrank so gut gefällt. Ständig fährt er sich verlegen durch sein Haar und räuspert sich.
Als J.J. in die Küche schleicht, bestellen sie sich gerade einen Sonnenaufgang mit extra viel Eis. Oma Vettel öffnet neugierig die Kühlschranktür und schlägt verzückt die Hände zusammen.
»Wie aus dem Bilderbuch und kein Glas zu viel! Das ist wirklich ein sehr, sehr schöner Kühlschrank, Broaf! Prost!«, singt Oma Vettel fröhlich und hält dem Diener neckisch grinsend ihr Glas entgegen. Schüchtern erwidert dieser den Trinkgruß und schlürft unbeholfen an seinem Energiecocktail. J.J. entgeht nicht, dass die beiden längere Augenkontakte krampfhaft vermeiden.
Das Mädchen fühlt sich etwas fehl am Platz. Sie stellt sich hinter ihre Großmutter und räuspert sich verlegen. Oma Vettel zuckt zusammen und dreht sich um. Als sie ihre Enkelin bemerkt, ist sie sichtlich erleichtert. Auch Broaf scheint froh zu sein, dieser verkrampften Situation endlich entfliehen zu können.
»Bist du fertig, Liebes? Dann wollen wir auch gleich losfahren«, stottert Oma Vettel schüchtern grinsend.
Nun ist J.J. vollends überzeugt, dass sich zwischen den beiden im Moment etwas Emotionales anzubahnen scheint. Das wäre allerdings eine Katastrophe! Zumindest für Broaf. Immerhin reist Oma Vettel sehr bald zu Konrad zurück. Und dem Mädchen ist nicht entgangen, dass dieser Umstand dem Diener auch ohne diese Plänkelei schon sehr mitnimmt. Das möchte sie ihm ersparen, da sie weiß, was Liebeskummer bedeutet.
»Broaf hat eine aufrichtige Seele. Es wäre grausam, wenn er den Rest seines Daseins leiden müsste.«
Seufzend nimmt das Mädchen ihre Tasche und schlendert mit den beiden zum Auto.
Sie setzt sich auf die Rückbank und holt Luft.
Es ist ein seltsames Gefühl. Alles um sie herum erscheint ihr anders, unwirklich, nicht mehr richtig. Das, was sie früher so fasziniert hat, jede magische Pflanze, jeder zauberhafte Baum, die endlose Einfahrt, all diese Dinge scheinen sie nun mit aller Macht erdrücken zu wollen.
Nachdenklich sieht sie aus dem Fenster und versucht sich zu konzentrieren, da sie plötzlich sehr traurig wird. Die Schatten der Alleebäume, die sich sonst in den Wagenfenstern austoben, fehlen. Es ist Herbst und die Sonne macht für ein paar Wochen Pause. Ungewollt hört J.J. ihrer Großmutter zu, die im Gegensatz zu ihr völlig euphorisch über diese vermissten Dinge schwärmt.
Das Mädchen lauscht der wohlklingenden Stimme Vettels und versucht sich zu entspannen. Sie schließt die Augen und seufzt, was ihrer Großmutter nicht entgeht. Besorgt dreht sich diese um und zwinkert aufmunternd. J.J. versucht entspannt zurückzulächeln, was ihr nicht wirklich gelingt.
»Gott sei Dank dauert die Fahrt ins Dorf nicht lang.«
Dem Mädchen geht das theatralische Geflöte ihrer Großmutter mittlerweile nämlich gehörig auf den Geist:
»Toller Wald, tolle Menschen, toller Vogel, toller Tag …
Ja, Großmutter. Das könntest du immer haben, wenn du nicht in das puderrosa Zauberreich gezogen wärst«, denkt sie gereizt.
J.J. bemerkt, dass ihre Laune immer schlechter wird, und ist erleichtert, als sie endlich den Strand sehen kann. Mit jedem Meter, dem sie dem Meer näher kommen, wird sie innerlich ruhiger.
Auf dem kleinen Parkplatz vor der Bucht hält Broaf an und sieht besorgt in den Rückspiegel. J.J. bemerkt das und lächelt ihn zufrieden an. Sie ist dennoch froh, dass sie aus diesem Wagen entkommen kann. Nur noch ein paar Minuten, bis sie endlich allein ist.
Der Diener kennt sie viel zu lang und hat in den letzten Wochen viel zu sehr mit ihr gelitten, als dass er nicht bemerken würde, dass das Mädchen eigentlich nur wieder flieht.
»Bist du sicher, dass du allein hier bleiben möchtest? Ich könnte dir Gesellschaft leisten, wenn ich Vettel bei Iris abgesetzt habe«, bietet er fürsorglich an.
J.J. zieht die Stirn kraus und schüttelt energisch den Kopf.
»Nein! Danke, Broaf, aber das ist nicht nötig! Und schickt mir bitte auch nicht Myrrda hinterher! Ich kann sehr gut auf mich selbst aufpassen! In Xestha war ich auch allein unterwegs! Du kannst mich in zwei Stunden abholen. Ich denke, dann wird es auch schon dunkel werden!«, antwortet sie schroff.
Ohne es zu wollen, ist ihre Laune am Tiefpunkt angelangt. Deshalb gibt sie ihm deutlich zu verstehen, dass sie jetzt aussteigen möchte.
Bevor die beiden weiterfahren, streicht Oma Vettel ihr noch sanft über die Wangen.
»Manchmal denke ich, dass es besser gewesen wäre, wenn ich dich in der realen Welt gelassen hätte. Vielleicht war es nur purer Egoismus von mir, dir den Gedankenstein zurückzuschicken. Ich mache mir große Vorwürfe, Kleines. Bitte pass gut auf dich auf! Ich verspreche dir, dass wir für alles eine Lösung finden werden!«
J.J. schluckt und nickt. Broaf sieht sie besorgt an und startet den Motor. Das Mädchen ist erleichtert, als der Wagen endlich losfährt, und läuft schnell hinunter zum Strand.
Kapitel 4
Ein Dämon am Strand
Es war ein plötzlicher, innerer Impuls, der sie hierherführte. Eine flüchtige Vision. Jetzt wo sie hier ist, fühlt sie sich außergewöhnlich gut. Irgendwie befreit. J.J. rennt ein Stück am Strand entlang und bleibt erst kurz vor der Familienbucht stehen.
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