»Ich verstehe das nicht«, flüstert sie leise.
Ihre Großmutter kommt auf sie zu und streicht ihr sanft durchs Haar.
»Da hat das Haus aber wirklich Glück gehabt! Broaf hat mir berichtet, dass es bis zu meiner Ankunft diesen schrecklichen Trauereffekt beibehalten hat. Morgen früh werde ich ihm dafür gehörig die Meinung geigen! Aber jetzt kümmern wir uns erst einmal um dich! Wie ich sehe, komme ich keinen Moment zu früh.«
Ohne Vorwarnung schnappt sie J.J.s Hand und zieht sie einfach hinter sich her.
Während die beiden stumm die Treppe hinabgehen, denkt das Mädchen verkrampft nach. Nichts scheint ihr dieses seltsame Erlebnis erklären zu können.
Wenn es wirklich nur ein Traum war, warum war das Fenster noch geöffnet?
Und für einen Fall von der Bettkante war der Aufprall ziemlich schmerzhaft.
Und da war noch seine Berührung. Sie konnte seinen Duft riechen und seine Worte klangen klar und deutlich.
Aber würde Linus wirklich wollen, dass sie zurück nach Xestha geht?
Kapitel 3
Ein langersehnter Gast
Es war ungefähr ein Uhr morgens, als Oma Vettel ihre Enkelin neben dem Bett auffand. Die alte Dame hatte es sich gerade mit einem Glas Wein in der Küche gemütlich gemacht, um sich von ihrer anstrengenden Anreise aus Rosaryon zu erholen, als sie J.J.s Schreie hörten.
Das war für Oma Vettel mehrfach erschreckend, da sie in diesem Moment ja noch nicht wusste, dass J.J. sich in Havelock versteckt. Broaf wollte es ihr eigentlich gerade erst schonend beibringen. Nachdem sie den Diener also sehr verständnislos angesehen hat, ist die alte Dame panisch nach oben gespurtet.
Jetzt sitzen die Drei in der Küche und schlürfen heißen Tee. J.J. sitzt neben Oma Vettel, ihren Kopf auf deren Schulter gelehnt.
»Da haben wir ja einen schönen Schlamassel! Das ist wirklich eine sehr verzwickte Situation. Es war Selbstschutz! Was sonst?
Der Junge wollte sie verfluchen! Jede Hexe aus Rosaryon hätte sich in diesem Fall gewehrt!
Ich muss mir überlegen, wie wir dieses Problem lösen, mein Kind. Wir wären also wieder am Anfang. Darania gibt nicht auf! Es wäre ja auch viel zu einfach gewesen.
Na gut. Dann müssen wir eine gemeinsame Lösung finden.
Aber du, meine liebe Jezabel, gehst jetzt erst einmal schlafen!
Broaf, du kochst uns eine große Kanne starken Kaffee. Ich habe nur drei Tage Zeit und es gibt viel zu erledigen. Na los. Ab mit dir ins Bett, junge Dame!«
Oma Vettel küsst ihre Enkelin auf die Stirn und schiebt das erschöpfte Mädchen von der Eckbank.
J.J. winkt Broaf kurz zu und geht hinauf in ihr Zimmer. Das Mädchen ist wirklich müde und immer noch verstört wegen der seltsamen Sache mit Linus. Als sie ihr Zimmer betritt, wird sie von einem lauten Schnarcher begrüßt. Lincoln liegt in seinem Körbchen und schläft wie ein Murmeltier. Anscheinend hat der Halfie nicht mitbekommen, dass sie vorhin aus dem Bett gefallen ist.
Sie deckt den kleinen Halbtagshund behutsam zu und geht ins Bett.
Ganz im Geheimen hofft sie, dass sie noch einmal von Linus träumt und ihn fragen kann, was das alles zu bedeuten habe. Das Mädchen schläft jedoch völlig erschöpft ein und wacht erst am nächsten Mittag wieder auf.
Als sie sieht, wie spät es ist, springt sie erschrocken auf. Nur drei Tage hat ihre Großmutter Zeit, bevor sie wieder nach Rosaryon muss. Die will das Mädchen auf keinen Fall verschlafen!
Sie flitzt in ihr Badezimmer und schiebt sich die Zahnbürste in den Mund. Dann rennt sie in ihr Ankleidezimmer und wirft sich hastig ein hellblaues Kleid über. Als sie in die Küche stürmt, erschreckt sie kurz, da sie dort niemanden vorfindet. Da fällt ihr ein, dass sie während Vettels Aufenthalt gemeinsam im Esssalon speisen wollen und eilt verlegen hinüber.
Die Bewohner und Oma Vettel sitzen bereits gesprächig an der langen Tafel und genießen das Mittagessen. Broaf hat sich heute richtig ins Zeug gelegt und ein gigantisches Büfett aufgebaut. Als das Mädchen hineingestürmt kommt, sehen alle verdutzt auf.
»Tschuligung. Hab veschlafen. Baf? Baf ist demm los«, stammelt das Mädchen völlig aus der Puste, worauf die Bewohner, einschließlich ihrer Großmutter, loslachen.
J.J. nimmt die Zahnbürste aus dem Mund, um nachzufragen, was so lustig sei, und wird knallrot. Verlegen versteckt sie die Zahnbürste hinter ihrem Rücken und rennt ohne Kommentar wieder hinauf, um ihr Waschritual zu beenden.
Mit erhobenen Händen und knallroten Wangen kehrt sie in den Esssalon zurück.
»Voll peinlich! Tut mir wirklich leid! Als ich gesehen habe, dass es schon Mittag ist, wollte ich mich beeilen. In der Hektik habe ich wohl ein paar Arbeitsschritte vergessen. Hallo Großmutter!«, rechtfertigt sie sich leicht beschämt.
Oma Vettel, die immer noch kichert, wirft ihr einen Handkuss zu und bittet sie zu Tisch. Automatisch geht das Mädchen zu ihrem Stammplatz neben Lincoln. Als sie ihren Stuhl zurückzieht, hält sie inne und starrt betrübt auf den leeren Platz rechts neben sich. Seitdem Diggler und Flick nicht mehr in diesem Haus sind, hat sie nicht mehr an dieser Tafel gesessen. J.J. schluckt und sieht zu Lincoln, der ebenfalls traurig auf den Stuhl starrt.
»Du solltest dich beeilen. Das Büfett wurde schon ganz schön geplündert. Wie es aussieht, hat Oma Vettel einen ordentlichen Hunger mitgebracht«, sagt der kleine Halbtagshund und zwinkert ihr verschmitzt zu.
J.J. schielt kurz zu ihrer Großmutter, die sich gerade genüsslich ein großes Stück Steak in den Mund schiebt, und grinst. Dann schnappt sie sich ihren Teller und packt ihn ebenfalls randvoll. Die Anwesenheit von Oma Vettel scheint sich wie ein spontaner Genesungsschub auf das Mädchen auszuwirken, denn so einen großen Appetit hatte sie schon lang nicht mehr.
Oma Vettel dagegen beobachtet ihre Enkelin mit zusammengekniffenen Augen und lädt sich hastig die vierte Portion Steak mit Bohnen auf ihren Teller, was den einen oder anderen Anwesenden heimlich schmunzeln lässt. Jeden Bissen krönt die alte Dame mit einem ausgedehnten »Hmmm!«
J.J. zieht die Augenbrauen nach oben und räuspert sich.
»Und Großmutter, wie hat es denn so mit der Ernährungsumstellung geklappt?«, fragt sie verschmitzt. Denn als Neurosaryerin sollte Oma Vettel eigentlich streng vegetarisch leben. Die alte Dame starrt ihre Enkelin biestig an und beißt sich verlegen auf die Lippen. Verstohlen sieht sie an der Tafel entlang und beginnt ganz leise zu erzählen:
»Das könnt ihr euch nicht vorstellen! Ich war stark. Sehr stark!
Ich habe mich an alles gehalten, was sie von mir verlangten. Ich verzichtete auf Fleisch und Fisch, aß nur noch Obst und Gemüse. Nach drei Wochen begann mein Körper jedoch ganz merkwürdig zu reagieren. Tagsüber hatte ich Schüttelfrost und in der Nacht Hitzewallungen, von denen ich angsteinflößende Träume bekam!
Eines Nachts, ich wähnte mich auf einem unserer großartigen Picknicks, wälzte ich mich keuchend im Bett umher, sodass Konrad mich ganz besorgt aufweckte. Ich war schweißgebadet und sah mich mit großen Augen um. Als ich begriff, dass ich wieder im Vegetarierparadies bin, war ich etwas beleidigt, da ich mir im Traum gerade ein saftiges Steak zum Munde führte.
Ich sagte: »Konrad! Entweder bekomme ich bald ein richtiges Steak oder ich werde zur Werwölfin!«
Aber er lachte nur und beichtete, dass es ihm ähnlich erginge. Schließlich hat Konrad viele Jahre in Neuseeland gelebt und ist ebenfalls ein großer Freund von BBQs. Trotzdem versuchte ich durchzuhalten. Ich hoffte, dass mein Körper sich irgendwann an dieses Blattzeugs gewöhnt. Aber ich sollte mich gewaltig irren. Es wurde immer schlimmer!
Eines Morgens, der Tau lag noch frisch über dem weisen Phad, haben sie mich im großen Gemüsefeld von Hexe Jelula aufgegriffen. Denn als Konrad in jener Nacht bemerkte, dass ich nicht mehr in meinem Bett lag, hat sich ein Suchtrupp auf den Weg gemacht, der mich schließlich, lediglich mit meinem Nachtgewand gekleidet, im Dickicht der großen Kürbisse fand. Ein Lasso in der einen und eine Bratpfanne in der anderen Hand.
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