Erschrocken tritt sie zurück und schleudert den Stein mit hasserfüllter Miene aufs Meer hinaus.
»Ich will dich nicht! Ich wollte dich nie! Lasst mich alle in Ruhe!«, schreit sie ihm nach.
Als der Stein die Wasseroberfläche berührt, setzt das Wasser sich wieder in Bewegung. So gewaltig und unerwartet, als hätte jemand einen Knopf gedrückt. Um den Stein bildet sich ein gewaltiger Strudel, der ihn wildbrausend in die Tiefe reißt. Dann beginnt das Meer zu murmeln. Dunkle Worte dringen vom Meeresgrund, die J.J. zwar nicht versteht, deren Ursprung sie aber erahnen kann. Sie ist wie erstarrt. Mit aufgerissenen Augen beobachtet sie das Spektakel.
»Das darf nicht wahr sein!«, denkt sie entsetzt, als sich das Wasser um sie herum plötzlich wütend auftürmt und der Sturm mit brachialer, ungeheuerlicher Kraft zurückkommt. Das Mädchen hält sich die Ohren zu und presst den Mund fest zusammen, da diese Gewalt ihr buchstäblich den Atem raubt.
Im nächsten Augenblick zieht sich das Meer zurück, um sich unweit von ihr zu einer kolossalen Wasserwand aufzutürmen. Dann verdunkelt sich der Himmel. Schwarze, tief hängende Wolken schließen sich zu gewaltigen Armeen zusammen und schreiten entschlossen auf sie zu.
Mittlerweile ist es so stürmisch, dass sich J.J. nicht mehr auf den Beinen halten kann. Vor Angst gelähmt liegt sie im Schlamm und sieht dem monströsen Schauspiel zu.
»Hilfe. Ich brauche Hilfe!«, flüstert sie ängstlich, während sie schockiert auf die gigantische Wasserwand starrt, die unaufhaltsam auf sie zuwandert. Als dann auch noch riesige Blitze aus dem Wasser geschossen kommen, die krachend in den pechschwarzen Himmel fahren, ist sie sich endgültig überzeugt, dass dieses Phänomen nicht weltlicher Natur ist.
J.J. versucht aufzustehen, um zu fliehen. Aber der Sturm drückt sie immer wieder zurück. Da passiert etwas Ungeheuerliches.
Aus der Wasserwand löst sich ein gigantisches Relief, das mit immenser Geschwindigkeit auf sie zugerast kommt. Dem Mädchen bleibt vor Schreck fast das Herz stehen.
Während diese seltsame Welle auf sie zurollt, verformt sie sich zu einem bekannten Gesicht, das sie dämonisch angrinst. J.J. kann nicht glauben, was sie da sieht.
»Das muss eine Halluzination sein! Was hier gerade passiert, darf nicht sein«, stottert sie fassungslos. Es ist Sander, der Fährmann vom Traubenperlensee! Geformt aus Wasser schreitet der Dämon in ihre Richtung.
»Das ist die reale Welt! Kein Dämon darf sich hier ungerufen zeigen«, schreit sie ihm entsetzt zu, während sie verzweifelt versucht, vom Ufer wegzukriechen.
»Jezabel! Warum die Eile? Ich dachte, wir wären Freunde. Du kannst dich nicht ewig in der realen Welt verstecken! Es ist deine Bestimmung! Verstehst du das nicht? Je länger du dich hier verkriechst, um so mehr verblassen die Grenzen, weil andere deine Pflichten übernehmen. Es ist dein Schicksal, dieses Gleichgewicht aufrecht zu erhalten. Du musst das große Ganze sehen. Auch die Unsrigen verzehren sich nach deiner Macht, dunkle Herrscherin. Die Zeit eilt!«
Die Stimme von Sander ist laut, aber genauso ruhig und betörend wie damals, als sie ihm beinahe die Seele ihrer Großmutter verkauft hätte.
Das Mädchen liegt auf dem schlammigen Boden und sieht mit aufgerissenen Augen auf den Wasserkoloss, der auf sie zugerollt kommt. Kurz bevor es das Mädchen erreicht, löst sich das Wassermonster plötzlich auf und schwappt als riesige Welle auf sie zu.
J.J. versucht verzweifelt aufzustehen, aber der Sturm drückt sie weiterhin zu Boden. Mit geballter Kraft dreht sie sich um, und versucht auf allen Vieren vom Strand wegzukriechen. Doch da hat die Welle sie schon erreicht.
Im letzten Moment packt sie jemand am Arm und zerrt sie unter einen Felsvorsprung, der kurz darauf überflutet wird. Als das eiskalte Wasser sich wieder zurückgezogen hat, schnappt das Mädchen mit letzter Kraft nach Luft. Panisch sieht sie zu Broaf, der ebenfalls durchnässt, mit angsterfüllter Miene hinter ihr kauert und sie festhält.
Das Mädchen starrt zum Ufer, wo ihre Großmutter bis zur Hüfte im Wasser steht. Ihren alten Hexenbesen weit in die Höhe gestreckt, brüllt die alte Dame ein paar dunkle Verse, die ihr allerdings nicht mehr gehorchen. Besorgt beobachtet der Diener, wie sich neue Wellen bedrohlich auftürmen und nun auf Vettel zurasen, die trotzdem entschlossen im Wasser stehen bleibt und immer lauter ihre alten Zaubersprüche brüllt. Rosinante hat jedoch eine neue Herrin, daran ändert auch diese Situation nichts. Als J.J. das endlich begreift, löst sie sich aus Broafs Umklammerung und rennt zu ihrer Großmutter. Ohne zu überlegen, reißt sie ihr den Hexenbesen aus den Händen und brüllt: »Stabigo!«
Das Mädchen bemerkt, wie sich ihre Stimme verändert. Dunkel und laut donnert sie los. Ihre Angst ist plötzlich wie weggeblasen. Sie stemmt ihre Füße in den Sand und wartet, bis sich der Besen in das mächtige Zepter verwandelt hat. Dann befiehlt sie ihrer Großmutter, zu Broaf unter den Felsvorsprung zu gehen. Der Diener steht jedoch bereits hinter ihnen und zerrt die keifende Vettel mühsam von J.J. weg. Diese streckt das Zepter in die Höhe und konzentriert sich. Mit geschlossenen Augen beginnt sie zu murmeln:
»Ich rufe den Sturm und den donnernden Blitz! Nur ich bin eure Gebieterin und nur ich kann euch rufen! Kommt an meine Seite und bringt mir die dunklen Schatten!«
Prompt reißt der Boden unter ihren Füßen mit einer solchen Wucht auf, dass es das Mädchen einige Meter nach hinten schleudert. J.J. rappelt sich schnell wieder hoch und beginnt den Sturm zu dirigieren, der sich brüllend um sie herumwindet. Als die keuchenden Schatten aus dem Boden gekrochen kommen, beginnt sie zufrieden zu lächeln. Sie fühlt sich befreit, so als könne sie seit drei Monaten das erste Mal wieder ausatmen.
Mit verachtender Miene erhebt J.J. die Hand, worauf die dunklen Wesen sich tief vor ihr verneigen, bevor sie kreischend in den Sturm springen, um in großen Bögen um sie herumzutanzen. Dann beginnt der Boden unter J.J. zu brennen. Diese Feuersbrunst ist so gewaltig, dass Rosinante zu zittern beginnt.
»Fju! If Aquorius si tei. Nomo fi du ruhx. Goromdai! I fju! Goromdai!«, brüllt J.J. mit dämonischer Stimme, während ihre Augen sich verdunkeln, was ihre Großmutter Gott sei Dank nicht sehen kann. Die alte Dame sitzt leichenblass unter dem Felsvorsprung und kreischt ihr irgendetwas zu. Aber das Mädchen kann sie nicht verstehen. Sie hört nur noch, wie Oma Vettel ein lautes »Allmächtiger!« brüllt, als die Erde zu beben beginnt.
Eine gigantische Gestalt zieht sich stöhnend aus dem Sand, deren Augen lichterloh brennen. Dieser Sandriese hat große, spitze Dornen, die sich von den Schultern bis zur Schwanzspitze hinabziehen. Ungeduldig und rasend vor Wut schlägt er damit auf den Boden und wirbelt gewaltige Mengen an Matsch und Sand auf.
Während Broaf und Oma Vettel entsetzt loskreischen, betrachtet J.J. das Geschöpf mit Genugtuung. Genau wie in jenem Augenblick, als Fjigor in die Arena kroch.
»Goromdai! Hol dir Sander!«, befiehlt sie dem Sandriesen mit dämonischer Stimme.
Das Monster brüllt und schlägt zornig mit der Faust auf den Boden, als sie den Namen des Fährmanns erwähnt.
Während er in der dunkelsten aller Sprachen spricht, gleitet Goromdai in das Meer und wird mit jedem Atemzug größer und größer. Als der Gigant die nächste Monsterwelle erreicht, überragt er diese bereits haushoch.
Oma Vettel sitzt unter dem Felsvorsprung und spuckt Gift und Galle. J.J. ignoriert sie und sieht dem Sandgeschöpf entspannt hinterher. Als der Koloss explodiert und die gewaltigen Sandmassen die Welle unter sich begraben, beginnt die Erde erneut zu beben.
J.J. steht unberührt am Ufer und beobachtet, wie sich das Wasser langsam zurückzieht. Ihre Großmutter und der Diener hocken mit offenen Mündern unter dem Felsvorsprung und starren das Mädchen entsetzt an.
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