Dann zieht der Sturm sich zurück und plötzlich ist es so still, als hätte jemand den Ton abgestellt. Noch ehe sie begreifen, was hier vorgeht, lässt ein markerschütternder Schrei die Drei zusammenzucken. Das Meer treibt Goromdais Stimme ans Ufer, der in den Tiefen des Meeres dämonische Verse murmelt, die Sander schier unerträgliche Qualen zu bereiten scheinen, denn der Fährmann wimmert in dunkler Sprache um Gnade.
J.J. betrachtet derweil mit schmerzverzerrtem Gesicht ihre Hände. Rosinante vibriert so heftig, dass sich auf den Innenflächen schon Blasen bilden. Der Hexenbesen wehrt sich entschlossen gegen diese Art der Magie und versucht sich aus den Händen des Mädchens zu befreien.
Mit verachtender Miene stemmt das Mädchen das Zepter in den Sand:
»Ich bin deine Herrin! Es ist zu Ende, wenn ich es dir befehle! Meine getreuen Diener: Nehmt diese Kreaturen und bringt sie dem Falken!«
Diese Worte, die verachtend und dunkel aus dem Mund des Mädchens donnern, lassen Broaf und Vettel den Atem stocken. Mit aufgerissenen Augen sehen sie zu, wie die dunklen Schatten in das Meer stürzen und kurz darauf mit zwei glühenden Körpern, die sich wild in ihren Klauen winden, wieder emporsteigen.
Während J.J. dem Treiben gelassen zusieht, beginnt Rosinante zu rotieren, sodass das Mädchen große Mühe hat, das Zepter in ihren Händen zu halten. Mit eiskaltem Blick hält sie es vor ihren Körper, während die grüne Kugel die kreischenden Kreaturen einsaugt.
»Du bist nur ein Dämon! Nichts als ein gewöhnlicher Dämon«, spricht sie verachtend, während Sanders Körper im Sog des dunklen Wirbels verschwindet.
Als die grüne Kugel innehält, fällt Rosinante wie vom Blitz getroffen zu Boden.
Die dunklen Wolken lösen sich schlagartig auf und der Sturm wandelt sich zu einer leichten Brise. J.J. steht bis zu den Oberschenkeln im Meer, das nun ruhig vor ihr liegt, und erwacht nur langsam aus ihrer Trance.
Broaf springt hoch und zieht das erstarrte Mädchen mühsam ans Ufer. Oma Vettel stapft wütend an ihnen vorbei und sucht Rosinante. Schnaubend holt sie den Reisigbesen aus dem Wasser.
»Das ist eine Schande! Sechshundert Jahre hat Rosinante uns treu gedient und du benutzt sie für deine Spielchen. Und obendrein vergisst du sie einfach im Meer! Du solltest gut auf sie aufpassen, Jezabel«, schimpft Oma Vettel empört los und trägt den Besen wie ein Kleinkind zu dem Felsen.
J.J. kniet im Sand und sieht verwirrt zu ihrer Großmutter, die nun wütend auf sie zugestapft kommt.
»Hast du den Verstand verloren? Was hast du dir dabei gedacht? Nein. Halt! Ich will überhaupt nicht wissen, was hier gerade passiert ist. Wahrscheinlich musstest du deinen verrückten Emotionen wieder freien Lauf lassen und hast mit ein paar alten Versen herumgespielt!«, schreit Oma Vettel vollkommen außer sich los.
Broaf hält beschwichtigend die Hand gegen die wütende alte Dame und zieht J.J. ein Stück näher zu sich heran.
»Wir sollten uns erst einmal beruhigen, Vettel. Das war gerade außerordentlich anstrengend für uns alle und wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, mehr als gefährlich. Nicht nur für uns, sondern auch für die anderen Bewohner von Havelock! Jezabel, wie konntest du nur in aller Öffentlichkeit solche Geschöpfe herbeirufen? Das war keine gewöhnliche dunkle Magie. Das war der Vorhof zur Hölle!«, sagt er entsetzt. Obwohl der Diener immer noch am ganzen Leib zittert, versucht er ruhig und sachlich zu sprechen.
J.J. rappelt sich auf und sieht die beiden wütend an.
»Das glaubt ihr also? Ihr glaubt, dass ich das war? Ihr denkt, ich bin hier am Strand herumspaziert und habe aus Langeweile Sander in die reale Welt gerufen?«, brüllt sie los.
Als sie den Namen des Sirenendämons erwähnt, verdunkelt sich Oma Vettels Gesicht noch mehr. Entsetzt reißt sie die Augen auf.
»Sander? Das war der Fährmann vom Traubenperlensee? Das kann nicht sein, Jezabel! Erstens kommt ein Dämon niemals ungerufen in die reale Welt! Niemals! Und zweitens würde Sander den Traubenperlensee nicht unbewacht lassen! Warum sollte gerade ER die Grenzen überschreiten?
Das glaube ich nicht! Du lieber Himmel, sie hat den Fährmann vernichtet … Mit Rosi …«, flüstert Vettel entsetzt.
J.J. erkennt eine explosive Mischung aus Furcht und Abscheu im Gesicht ihrer Großmutter, gemischt mit tiefstem Misstrauen.
Verzweifelt reißt das Mädchen die Arme in die Höhe. So als wenn sie ihr beweisen will, dass sie unbewaffnet ist.
»Das weiß ich auch, Großmutter! Aber ich schwöre, dass ich ihn nicht gerufen habe! Ich bin nur ins Meer gegangen, um Linus’ Stein hineinzuwerfen! Da ist es plötzlich passiert. Das Wasser wurde schwarz und hat sich aufgetürmt. Dann ist Sander darin erschienen und auf mich losgegangen. Warum glaubst du mir nicht?«
J.J. sieht ihre Großmutter böse an und schnaubt. Tränen laufen ihr über die Wangen, die sie wütend wegwischt.
Das Mädchen weiß, dass sie unschuldig ist. Also gibt es auch keinen Grund zu weinen!
Oma Vettel stemmt entrüstet die Hände in die Hüfte und schüttelt energisch den Kopf.
»Es tut mir leid, aber das kann nicht die Wahrheit sein, Jezabel. Auch wenn ich es gern glauben möchte! Sollte nämlich stimmen, was du mir da so lapidar erzählst, hätten wir weitaus größere Probleme, als ich gedacht habe. Dann wäre etwas im Gange, was unsere grausamsten Ängste überträfe. Was wollte er von dir?«, fragt sie ungläubig, während sie ihre Enkelin fixiert, als wolle sie herausfinden, ob das Mädchen sie anlügt.
J.J. bemerkt das natürlich und senkt beschämt den Kopf.
»So ganz genau weiß ich es auch nicht. Ich war selbst geschockt, als er auf mich zugerast kam. Ich kann mich nur erinnern, dass er sagte, ich sei schuld, dass die Grenzen verschwimmen.«
Ihre Stimme bricht ab. Die Situation ist brisant genug. Deshalb beschließt das Mädchen, ihrer Großmutter nicht alles zu erzählen, was Sander sagte, da sie befürchtet, dass ihre Großmutter und Broaf sie dann noch energischer zu einer Entscheidung drängen würden. Außerdem ist sie im Moment stinksauer auf Oma Vettel und hat keine Lust mit ihr zu reden.
Diese sieht entsetzt zu Broaf und schlägt die Hände über dem Kopf zusammen.
»So ein Mist. Was sollen wir nur tun, Broaf?«, fragt sie hilflos.
Das letzte Mal, als der Diener sie so erlebt hat, war die Nacht, in der Timothey und Cassy den schrecklichen Autounfall hatten. Er steht auf und zieht J.J. vorsichtig hoch.
»Wir sollten die Brandspuren entfernen und schnellstens von hier verschwinden. Wir müssen herausfinden, inwiefern die Menschen etwas von diesem Vorfall mitbekommen haben. Ich mag mir nicht vorstellen, wie Darania darauf reagiert, wenn sie davon erfährt. Und ich bin mir sicher, dass sie das wird! Ich denke, uns gehen langsam die Möglichkeiten aus!«, flüstert der Diener ratlos.
Nachdem sie die Spuren der Beschwörung weitestgehend beseitigt haben, setzen sie sich vollkommen erschöpft in den Wagen und fahren zurück auf das Anwesen. Während der Fahrt redet niemand ein Wort. J.J. starrt stur aus dem Fenster und hofft, dass dies alles nur ein schrecklicher Irrtum war. Aber die Tatsache, dass sie Rosinante benutzt hat, um einen Dämon zu rufen, um daraufhin zwei solcher Kreaturen zu vernichten, lässt ihrer Großmutter keine Ruhe.
»Ich muss schon sagen, du hast ganz schön was zu bieten, junge Dame! Dieses Sandding war zwar gruselig, aber außerordentlich respekteinflößend. Was mich allerdings immer noch stört, ist die Tatsache, dass du alle Probleme nur mit Dämonenzauberei löst! Auch wenn du das mit der Seele dieses Mal geschickt angestellt hast. Sie dem Falken zum Fraß vorzuwerfen, war meines Erachtens aber eine Nummer zu groß für dich! Ich denke, das wird uns erst richtige Probleme bringen! Den Rest mag ich mir gar nicht vorstellen.
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