"Müsst Ihr nicht irgendwohin?", fragte er in diesem Moment und deutete auf den Leinensack, der noch immer über meiner Schulter hing. Erst jetzt wurde mir bewusst, wie lange ich bereits weg war.
"Ich muss tatsächlich gehen", gab ich zu. "Und Ihr ... erschreckt weiterhin Mädchen im Wald."
Er verzog die Lippen und ich wusste, dass mein Versuch, einen Scherz zu machen, auf Granit getroffen war.
"Man nennt es Jagen", zischte er und wandte sich ab. Bevor ich etwas hätte entgegnen können, hatte er sich wieder ins Unterholz geschlagen.
"Heißt es auch Jagen, wenn man nichts fängt?", murmelte ich in die Stille, als er bereits verschwunden war.
Die Sonne war bereits hinter den höchsten Wipfeln der Bäume verschwunden und der amethystfarbene Schimmer der Dämmerung senkte sich über das Dorf, als ich Calideyas Hütte verließ. Die Lektionen in Telepathie waren immer die letzten auf meiner Tagesordnung – und der Teil des Trainings, für den ich am wenigsten natürliches Talent zeigte. Es kostete mich eine ganze Menge Konzentration, bei Übungen in Calideyas Gedanken zu dringen – selbst, wenn diese sie nicht verbarg. Noch schlimmer wurde es, wenn ich selbst meine Gedanken vor ihr verbergen sollte. Ich versuchte es nun schon seit zwei Wochen und noch immer schien Calideya ohne Mühe alles lesen zu können, was ich dachte. Als wäre ich ein offenes Buch.
Ich seufzte und ignorierte das Ziehen in meiner Magengegend, das mich daran erinnerte, wie lang meine letzte Mahlzeit zurücklag. Unwillkürlich beschleunigte ich meine Schritte. Bis zu unserer Hütte war es nicht besonders weit und ich hatte bereits eine Hand um den Türknauf gelegt, als die Tür von innen aufschwang. Vor Schreck stolperte ich einen Schritt zurück.
"Wer... oh." Conans Miene erhellte sich, als er mich erkannte. "Ich wollte gerade nach dir suchen."
"Scheint, als hättest du mich gefunden." Auch auf meine Lippen stahl sich ein Grinsen, während ich an ihm vorbei in die Hütte trat. "Ich bin am Verhungern. Du hast hoffentlich noch etwas von dem Brot übriggelassen."
In einem vertrauten Ablauf zündete ich zuerst die Öllampe in der Mitte des Raumes an, bevor ich aus dem hüfthohen Schrank neben der Tür Teller und Messer holte und dann auf der schmalen Arbeitsplatte begann, ein Abendessen anzurichten.
"Weshalb hast du nach mir gesucht?", fragte ich, ohne den Blick zu heben. "Ist irgendetwas passiert?"
"Du hast es vergessen." Conans Tonfall war eine Mischung aus Vorwurf und Enttäuschung. "Das Ritual wird heute stattfinden. Du weißt schon – zum Schutz des Zirkels. Ich dachte, wir sehen es uns an?"
Siedend heiß erinnerte ich mich. Die Hexen hatten bereits kurz nach unserer Ankunft beschlossen, den Schutzschild zu erneuern, um es Morrigans Männern unmöglich zu machen, uns aufzuspüren. Sidony hatte erwähnt, dass die Vorbereitungen einige Tage dauern würden, doch ich hatte nicht damit gerechnet ...
"Wenn du müde bist und dich lieber ausruhen willst ...", setzte Conan in diesem Moment bereits an. "Wir können sicher auch ein anderes Mal zusehen."
"Nein." Eilig fuhr ich herum. "Wir werden uns dieses Ritual auf jeden Fall ansehen. Lass mich nur kurz ..."
Erneut wandte ich mich der Arbeitsplatte zu und schnappte mir das Brot, das ich soeben mit Käse belegt hatte. Dann griff ich mir den Umhang von der Lehne des Stuhls, auf die ich ihn vorhin hatte fallen lassen und drehte mich schließlich zurück zu Conan. "Alles erledigt. Wir können gehen."
Ein Lächeln huschte über seine Züge. Ohne zu zögern schnappte er sich seinen Umhang. Nur Augenblicke später waren wir aus der Tür und auf dem Pfad, der in den Wald führte.
"Wie war dein Training?", fragte Conan, während ich den letzten Bissen Brot aß. Ich schluckte.
"Wie immer", antwortete ich dann. "Calideya knackt mich wie eine Walnuss und Cybele besteht darauf, dass ich sie so bald wie möglich zu ihren Patienten begleite."
"Mich hat sie auch schon gefragt." Er zuckte die Schultern. "Ich schätze, es spricht nichts gegen ein paar echte Fälle, um die richtige Übung zu bekommen."
"Wahrscheinlich hast du Recht." Ich zog den Umhang enger um meine Schultern. Das letzte Licht des Abends war längst zwischen den Wipfeln der Bäume verglommen und ich bereute es, keine Laterne mitgenommen zu haben. Der kalte Nachtwind kündete bereits vom kommenden Winter und auf dem unebenen Pfad grenzte es an ein Wunder, wenn wir uns in der Dunkelheit nicht alle Knochen brachen.
Ich hatte den Gedanken noch nicht einmal beendet, als Conan neben mir die Hand bewegte. Keinen Augenblick später tanzte auf seiner Handfläche eine Flamme, die den Weg vor uns erhellte. Als ich ihn ansah, zuckte er nur die Schultern. "Besser, als durch die Dunkelheit zu tappen."
Entschlossen stapfte er voran, während das Feuer die Schatten um uns herum tanzen ließ. Perplex folgte ich ihm. "Wie machst du das?"
"Wie mache ich was?" Er hielt inne.
"Du gehst mit diesen Fähigkeiten um, als wären sie das Natürlichste auf der Welt." Ich deutete auf die Flamme. "Ich wäre nicht im Traum darauf gekommen, das Feuer zu rufen."
"Alles eine Sache der Gewohnheit", entgegnete er und ein ermutigendes Lächeln umspielte seine Lippen. "Wenn du die Magie in dein Denken einbeziehst, wird sie früher oder später auch in deinen Handlungen auftauchen."
"Sehr weise." Ich verzog die Lippen. "Von wem hast du denn diesen Spruch geklaut?"
"Wer sagt, dass es nicht meine Worte sind?"
Ich hob eine Braue und Conan seufzte. "Calideya, wenn du es unbedingt wissen musst. Aber sie hat Recht. Die Magie muss zuerst hier drin sein ..." Er tippte sich an die Stirn. "... bevor sie hier erscheinen kann." Er nickte in Richtung der Flamme auf seiner Handfläche.
Für einen Moment starrte ich mitten in das tanzende Feuer, während Conans – oder Calideyas – Worte in mein Bewusstsein sanken. Hatte er Recht? Dank des Trainings konnte ich zwar die meisten Zauber auf dem Level eines Novizen des dritten Jahres wirken, doch ich wusste selbst, dass das nicht genug sein würde. Egal, wie hart ich trainierte und wie große Fortschritte ich machte – am Ende zählte allein, dass ich die Magie einsetzte, wenn der Zeitpunkt kam. Und ich konnte nicht behaupten, dass ich das bisher außerhalb des Trainings getan hatte. Bedeutete das also, dass all die Stunden auf den Übungsplätzen nur ein Bruchteil dessen waren, was es brauchte, um die Magie wirklich zu einem Teil von mir zu machen? Und war ich bereit, so viel zu geben, für einen Kampf, der nahezu aussichtslos schien?
Zum ersten Mal seit Stunden dachte ich wieder an heute Morgen.
"Ich habe bei Sidony begonnen, ein eigenes Elixier herzustellen", eröffnete ich, während ich den Blick entschlossen auf den Weg vor mir richtete. Ich wusste, dass es Conan anders als mir nicht so leichtfiel, sich die verschiedenen Zutaten und Tränke zu merken – Sidonys Lektionen waren für ihn, was Calideyas Lektionen für mich waren.
"Ehrlich?", fragte er nun und musterte mich überrascht. "Das ist großartig. Welches Elixier wird es denn?"
Ich zögerte, aber es war sinnlos, jetzt noch auszuweichen. "Das Elixier der schlimmsten Ängste."
Conans Augen weiteten sich, als er den Namen zuordnete. "Ein psychedelisches Mittel? Ich dachte, nur Meister des Handwerks hätten die Erlaubnis, diese Art Elixier herzustellen."
"Ich schätze, ich bin eine Ausnahme." Meine Stimme klang alles andere als begeistert und nicht zum ersten Mal fragte ich mich, ob das, was wir hier taten, wirklich das Richtige war. "Ich habe nicht vor, das Elixier jemals einzusetzen, aber Sidony wollte, dass wir auf alles vorbereitet sind. Falls ..."
Ich musste den Satz nicht beenden.
"Verstehe." Aus Conans Miene sprach Sorge und ich wusste, dass ihn dieselben Erinnerungen einholten, die mich heute Morgen heimgesucht hatten. Die Szenen im Schlosshof waren etwas, das mich wohl bis an mein Lebensende verfolgen würde. Die Frage, ob ich nicht etwas hätte tun sollen – tun können, hallte in meinen Alpträumen wider und mehr als einmal wünschte ich, ich hätte zumindest versucht, zu kämpfen. Hätte mich nicht einfach von Ethan aufsammeln lassen wie ein Spielzeug und wäre nicht einfach mit ihm davongeritten. Ich wünschte, ich hätte die Rebellen nicht im Stich gelassen. Ich wünschte ...
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