Qiang und Chan pflegten von Kindheit an die seit Jahrtausenden überlieferten chinesischen Körperübungen des Tai Chi , und sie hatten es frühzeitig auch ihren eigenen Kindern weitervermittelt. Regelmäßig morgens gegen sechs Uhr ging die ganze Familie in den Garten, um gemeinsam ihre Entspannungsübungen zu machen. Es waren harmonische, fließende Bewegungen, die langsam und ohne Unterbrechung ausgeübt wurden, kombiniert mit einer bestimmten Atemtechnik und einer meditativen Konzentration auf bestimmte Körperregionen. Gemäß dem Prinzip von Yin und Yang ist jede Übung eine fortwährende Folge von Bewegung und Gegenbewegung: Auf Heben folgt Senken, auf Beugen folgt Strecken, auf Vorwärts- folgt Rückwärtsbewegung.
Nach etwa 40 Minuten beendeten sie ihre Übungen und gingen zum Duschen, und nach einer weiteren Viertelstunde saßen alle beisammen am Frühstückstisch.
Chinesen beginnen ihren Tag üblicherweise mit einem warmen Frühstück. Kaltes Essen ist für sie kein Essen. Dazu trinken sie entweder frisch aufgekochtes Wasser oder grünen Tee. Robby hatte bereits alles vorbereitet. Die Kinder aßen gern – so auch an diesem Morgen – gebratenes Gemüse mit Nudeln. Außerdem hatten sie sich ein paar süße Baozi , das sind gefüllte Klöße aus Hefeteig, bestellt. Es gibt nicht nur süße, sondern auch salzige Baozi , saure und sogar bittere, insgesamt mehr als 70 Varianten. Als Füllung wird Schweine-, Rind- oder Hammelfleisch, Krabben, Fisch und Gemüse aller Art verwendet. Sie sind sehr beliebt in China, man kann sie an fast jeder Straßenecke kaufen – chinesisches Fast Food. Sie werden gleich so, wie sie sind, das heißt ohne Soße oder ähnliches, von der Hand gegessen. Chan hatte sich Youtiao bei Robby bestellt, das sind fritierte Teigstangen, ähnlich den spanischen Churros, und dazu eine Art Crêpe, gefüllt mit Fleisch, Soja, Ei und Koriander. Qiang aß nur eine Schüssel Reissuppe, denn er mußte sich heute kurzfassen beim Frühstück, weil er bereits einen Besprechungstermin zu acht Uhr mit seinen Vorstandskollegen vereinbart hatte. Die neue Lage sollte besprochen, notwendige Maßnahmen mußten erörtert werden. Und dazu wollte er noch ein paar Dinge vorher vorbereiten.
Er wählte, wie gewöhnlich, den Runway , um zu seiner Firma zu kommen. Das war ökonomischer und ging sogar schneller, als wenn er seinen Wagen benutzt hätte. Diese Runways sind eine Art ‚Laufbänder‘ nach dem Prinzip der Rolltreppen, aber technisch verbessert und so breit, daß drei Leute bequem nebeneinander herlaufen können. Außerdem sind sie großzügig überdacht, so daß man sie auch bei Regen und Schneefall trockenen Fußes passieren kann, und des Nachts beleuchtet. Sie durchzogen die ganze Trabantensiedlung sternförmig, jeweils in Abschnitten von etwa 50 Meter Länge. In den vom Zentrum etwas entfernter gelegenen Bereichen gab es Querverbindungen. So wirkte die Gesamtanlage dieser Runways von oben betrachtet wie ein überdimensionales Spinnennetz.
Viertel vor acht war Qiang in seinem Büro, wo er von seinem Sekretär, natürlich auch ein Roboter, freundlich begrüßt wurde.
„Hallo Robby!“ grüßte er zurück. „Du weißt, daß wir gleich eine Besprechung haben?! Hast du uns ein paar Getränke hingestellt?“
„Ja, selbstverständlich! Alles erledigt!“ erwiderte Robby.
„Aber heute brauchen wir einen Prosecco zum Anstoßen. Es gibt was zu feiern!“
„Okay! Wird sofort erledigt!“
Qiang ging in sein Büro. Es war ein relativ großer, heller und unter Beachtung der Feng-Shui -Regeln sehr repräsentativ gestalteter Raum. Eine den neun Lebensbereichen des sogenannten Bagua entsprechende Gliederung und dezente Zuordnung verschiedener das Chi spendender, verstärkender und verteilender Hilfsmittel sowie weiterer im Raum verteilter Symbole und Accessoires sollten dafür sorgen, daß das Chi durch die Gesamtheit der in diesem Raum wirkenden Schwingungen positiv beeinflußt würde.
Eine breite Fensterfront ließ viel Licht herein. Das Mobiliar, eine Schrankwand, sein Schreibtisch, ein Tisch mit sechs Stühlen sowie eine Sesselgruppe, waren großzügig im Raum verteilt. Ein großes Aquarium stand zwischen der Sessel- und der Tischgruppe. Aquarien gelten in China als exzellente Chi-Spender, weil sie bewegtes Wasser mit dem Chi von Pflanzen und Tieren kombinieren, und gehören deshalb in jede Wohnung und eben auch in sein Arbeitszimmer. Daneben durften selbstverständlich die Pflanzen im Raum nicht fehlen, denn sie bringen ja selbst immer neue Lebenskraft hervor und gelten deshalb als ausgezeichnetes Hilfsmittel, um das Chi zu verstärken. Außerdem verbessern sie die Atemluft, indem sie die schädlichen Umweltgifte, die beispielsweise in Klebstoffen, Holzschutzmitteln und Kunststoffen enthalten sind, vernichten. Deshalb waren mehrere große Pflanzenkübel im Raum verteilt, vorzugsweise an Stellen, an denen das Chi nur spärlich vorhanden war und angereichert werden sollte, also insbesondere in den Ecken. Dabei handelte es sich vor allem um Philodendren und Drachenbäume, aber auch andere, bunt blühende Grünpflanzen, jedoch immer solche mit runden Blättern, da Pflanzen mit spitzen, lanzettförmigen Blättern ‚schneidendes Chi‘ aussenden und somit schädigend wirken könnten.
Die Ausgestaltung des Raumes war ganz wesentlich von Chan beeinflußt worden, die mit viel Liebe zum Detail und Gespür für Schönheit und schlichte Eleganz dafür gesorgt hatte, daß dieser Raum auf jeden, der ihn betrat, sogleich eine Atmosphäre des Wohlgefühls, der Harmonie und Behaglichkeit ausstrahlte.
Qiang machte sich ein paar Notizen, studierte seinen Terminkalender und gab noch verschiedene Anweisungen an seinen Sekretär, dann trafen auch schon seine Vorstandskollegen ein. Es war ein kleines, international besetztes Team, bestehend aus der Deutschen Susanne Krämer, zuständig für Finanzen und Controlling, der Britin Deborah Brown, zuständig für Marketing and Sales, dem Niederländer Lothar van Steben, zuständig für das operative Geschäft, das heißt für Entwicklung, Produktion und Auftragsabwicklung, der Französin Sandrine Marchal, zuständig für alle juristischen, administrativen und personellen Angelegenheiten, sowie ihm selbst, dem Chef, einem Chinesen. Qiang schätzte die Effektivität kleiner Führungsteams und flacher Hierarchien. Und die hohe Effizienz ihres Wirkens war der unbestrittenen Kompetenz der von ihm mit gutem Gespür ausgewählten Personen zu verdanken. Auch die vergleichsweise starke Repräsentanz von Frauen in seinem Team war mit Bedacht von ihm so gewählt, denn es war ihm hinreichend bekannt, daß gemischte Teams aus Männern und Frauen bessere Ideen entwickeln als gleichgeschlechtliche Gruppen – einfach schon deshalb, weil sie sich in ihren Fähigkeiten hervorragend ergänzen. Die sogenannten weiblichen Qualifikationen wie Team- und Dialogfähigkeit, emotionale Intelligenz und Organisationstalent sind in den von Männern dominierten Hierarchien früherer Zeiten meist zu kurz gekommen, häufig genug zum Nachteil der Unternehmen in Form von schlechtem Betriebsklima bis hin zu Frustration und dadurch bedingter Arbeitsunlust, mangelnder Bereitschaft zur Teamarbeit, häufigen „Hahnenkämpfen“ zwischen Konkurrenten auf der Karriereleiter und anderen negativen Begleiterscheinungen – letztlich resultierend in geringerer Rentabilität und geringerem Profit. Das alles war Qiang sehr bewußt, und deshalb legte er so einen gesteigerten Wert auf gemischte Teams, auf Teamarbeit generell und auf interdisziplinäre und internationale Zusammensetzung seiner Teams.
Natürlich können solche Stellenbesetzungen unter Umständen andere Probleme aufwerfen, die entsprechend beachtet und gegebenenfalls behutsam gelöst werden müssen. So war im Team von Qiang beispielsweise die Kenntnis der jeweiligen kulturellen Kommunikationsregeln sowie der unterschiedlichen Glaubens- und Wertorientierungen, insbesondere zwischen der chinesischen und der westeuropäischen Kultur, für die interkulturelle Kommunikation von immenser Bedeutung für das Funktionieren einer guten, effektiven und effizienten Zusammenarbeit.
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