Jiao kicherte: „Du bist ein Mischling, kleiner Bruder!“
„Du bist selbst ein Mischling!“ wehrte sich Jie vehement.
„Ihr braucht euch gar nicht zu streiten!“ unterbrach Long die beiden. „Mischung ist ganz normal! Oder vielmehr: Das ist ja gerade das Normale! Genau das ist nämlich von der Natur beabsichtigt, es ist praktisch das Grundprinzip der Evolution! . . . Da fällt mir übrigens gerade ein Gedicht vom alten Goethe ein, das wir in diesem Zusammenhang in der Schule gelernt haben. Wollt ihr’s hören?“
„Ja, gerne“, bat Chan sofort.
„Offenbar hat sich der alte Dichterfürst auch schon mit genau dieser Thematik befaßt, jedenfalls läßt das sein folgendes Gedicht vermuten:
‚ Vom Vater hab ich die Statur
des Lebens ernstes Führen,
vom Mütterchen die Frohnatur
und Lust zu fabulieren.
Urahnherr war der Schönsten hold,
das spukt so hin und wieder;
Urahnfrau liebte Schmuck und Gold,
das zuckt wohl durch die Glieder.
Sind nun die Elemente nicht
aus dem Komplex zu trennen,
was ist denn an dem ganzen Wicht
Original zu nennen?‘“
Qiang und Chan klatschten beifällig in die Hände, denn sie freuten sich, daß er das Gedicht so schön aufgesagt hatte, während Jiao und Jie noch etwas nachdenklich schienen.
„Du siehst also, kleiner Bruder“, belehrte Long seinen jüngeren Bruder, „man hat schon viel, viel früher festgestellt, daß die Erbanlage jedes Kindes immer von beiden Elternteilen bestimmt ist; es gibt immer wieder neue Vermischungen. Deshalb sind die Menschen ja so verschieden! Auch innerhalb einer Familie, obwohl da die Unterschiede sicher nicht ganz so groß sind.“
Long war für seine vierzehn Jahre ein guter Beobachter. Er hatte beim Betrachten von Familienfotos schon relativ früh festgestellt, daß er eine sehr große Ähnlichkeit mit seinem Vater hatte, was ihm überdies auch Freunde und Bekannte gelegentlich bestätigten. Und diese Tatsache trieb ihn immer wieder um. So ertappte er sich beispielsweise immer öfter dabei, Ausdrucksweise, Gestik und Gebärden seines Vaters ganz offenbar zu imitieren. Aber imitierte er sie willentlich? Oder agierte er vielmehr unwillkürlich aus sich selbst heraus und stellte gewissermaßen erst im nachhinein durch Selbstbeobachtung fest, daß er sich genauso verhalten hatte, wie es sein Vater in dieser Situation getan haben würde? Er wußte es nicht. So sehr ihn diese Frage beschäftigte, er fand keine Antwort darauf. Immerhin war dieser, für ihn unbefriedigende Umstand Motivation genug, sich stärker in die Thematik der Vererbungslehre einzuarbeiten – immer in der Hoffnung, die Ursachen für diese Evidenz eines Tages doch noch zu ergründen.
Sie unterhielten sich noch eine Weile weiter über dies und das, obwohl es inzwischen schon halb elf geworden war. Mit dem Essen waren sie längst fertig, und der Tisch war von Robby bereits abgeräumt.
„So, jetzt ist es aber schon ziemlich spät“, sagte Qiang schließlich, „es wird Zeit für euch zum Schlafengehen. Morgen früh um sechs ist die Nacht vorbei, also hopp, hopp ins Bett.“
Sie wünschten sich eine gute Nachtruhe, und die Kinder gingen auf ihre Zimmer.
„Wie sieht deine Planung für morgen aus?" fragte Qiang seine Frau, nachdem die Kinder draußen waren.
„Ich habe morgen vormittag zwei Vorlesungen, und danach will ich die Beiträge unseres heutigen Symposiums noch ein bißchen für mich aufarbeiten, damit ich die Dinge nicht so schnell vergesse“, antwortete Chan.
„Ja richtig! Ihr hattet ja heute euer Symposium! Erzähl doch mal; wie war’s? Was kam dabei heraus?“
Chan seufzte: „Ach, weißt du, es war natürlich für mich heute ein sehr interessanter Tag. Aber es war auch sehr anstrengend, den ganzen Tag über konzentriert zuzuhören, den geistig anspruchsvollen Vorträgen und Diskussionsbeiträgen zu folgen. Und entsprechend müde bin ich jetzt, um nicht zu sagen: völlig groggy. Deshalb wäre ich dir sehr dankbar, wenn du dich mit deinen Fragen vielleicht bis morgen gedulden könntest.“
„Selbstverständlich, mein Schatz. Ich will dich natürlich nicht quälen. Es hat auch Zeit bis morgen.“ Er beugte sich zu ihr hinüber, küßte sie auf beide Wangen und fragte, während er sich wieder zurücklehnte: „Um welche Thematik ging es eigentlich heute noch mal?“
„Es ging – kurz gesagt – im wesentlichen um die Frage des Bewußtseins: Was ist Bewußtsein? Läßt es sich durch eine mathematische Formel beschreiben? Oder hilft vielleicht die Quantenphysik dabei weiter? Ist Bewußtsein überhaupt eine Größe, die objektiver wissenschaftlicher Erkenntnis zugänglich ist? Ist die Erschaffung eines künstlichen Bewußtseins denkbar? Und so weiter. An diesem Thema arbeiten wir ja schon seit langer Zeit, wie du weißt.“
„Ja, sicher, und es ist höchst interessant und wissenschaftlich bestimmt sehr anspruchsvoll, davon bin ich überzeugt. Ich bin schon sehr gespannt auf eure Erkenntnisse. Und vor allem auch auf die Umsetzbarkeit dieser Erkenntnisse in technische Lösungen. Das würde unsere Roboterentwicklung weiter deutlich voran bringen. Wann, glaubst du denn, könnte es soweit sein?“
„Das läßt sich heute leider noch nicht so genau abschätzen, soweit sind wir einfach noch nicht. Wir haben da noch einen besonderen Knackpunkt. Wenn wir den gelöst haben, dann sehen wir klarer. Aber der hängt eben nicht nur von uns ab, wie du weißt. Wir arbeiten in unserem interdisziplinären Team ja eng mit unseren Kollegen in der Hirnforschung zusammen, und die haben das Problem leider auch noch nicht richtig im Griff. Unsere Arbeit ist aber letztlich abhängig von ihren Ergebnissen, baut gewissermaßen auf ihren Erkenntnissen auf. Durch die Teamarbeit sind wir immerhin auf dem jeweils neuesten Stand ihrer Erkenntnisse, können sie partiell sogar durch eigene Beiträge unterstützen und auf diese Weise die ganze Entwicklung forcieren, aber wir können sie natürlich nicht überholen.“
„Ja, ich weiß. Wir müssen uns noch gedulden, obwohl ich gerne viel schneller vorankommen würde.“ Er machte eine kurze Pause. „Immerhin bin ich heute wenigstens geschäftlich einen großen Schritt vorangekommen. Wir sind uns ziemlich einig in den Fragen der Geschäftsübernahme, es gibt nur noch marginale Punkte, die wir in den nächsten paar Tagen auch geklärt haben werden. Ich bin sehr zufrieden mit dem heutigen Tag. Aber müde bin ich jetzt auch.“
„Ja, ich auch.“
„Ach, übrigens, das muß ich dir doch noch schnell erzählen . . .“
„Was denn?
„Der Güssen hat doch allen Ernstes behauptet, er hätte mich neulich auf der Leipziger Messe gesehen. Dabei war ich doch dieses Jahr gar nicht dort! Der hat Gespenster gesehen, anders kann ich mir das nicht erklären.“
„Na, dann hat er sich eben getäuscht. Das kann ja mal passieren.“
„Das habe ich ihm auch nahezulegen versucht. Ich habe ihm klar und deutlich gesagt, daß ich dieses Jahr nicht auf der Messe war. Aber er sagte, er könne Stein und Bein schwören, daß er mich gesehen hat.“
„Dann hast du vielleicht einen Doppelgänger?“
„Hmmm . . . Das wäre die einzige plausible Erklärung, wenn er sich nicht wirklich verguckt hat. . . . Aber Doppelgänger? Zum Verwechseln ähnlich? Ich weiß nicht. . . . Allerdings tun sich die Europäer ja bekanntlich etwas schwerer, Asiaten zu unterscheiden. Insofern wäre eine Verwechslung schon leicht möglich.“
„Hat er deinen Doppelgänger nicht angesprochen? Denn dann hätte sich das Mißverständnis doch sehr schnell aufgeklärt.“
„Er hat mir erzählt, er habe mich an einem chinesischen Ausstellerstand gesehen, wie ich gerade telefonierte. Da wollte er nicht stören, deshalb habe er gewartet, bis ich das Telefonat beende. Aber dann sei ich plötzlich hinter dem Stand verschwunden. Daher habe er keine Gelegenheit gehabt, mich zu begrüßen.“
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