„Ja“, sagte Robby, „ich habe schon gesehen, daß du kurz vor Ulm bist und gleich hier eintreffen wirst, Qiang. Ich werde alles vorbereiten, bis gleich.“
Unwillkürlich kam ihm der Gedanke an die Worte von Herrn Güssen, dem Geschäftsführer von AnthropoTech , der ihn neulich bei einem chinesischen Ausstellerstand auf der Leipziger Herbstmesse gesehen haben will. Wie kommt der Mensch bloß darauf, fragte er sich. Ich war doch gar nicht auf der Messe dieses Jahr. Habe ich vielleicht einen Doppelgänger? Nein, nein, der Güssen muß sich getäuscht haben. Aber komisch ist das schon. Dann dachte er wieder an den Ablauf der Gespräche, die unterschiedlichen Positionen und Argumente, an die erzielten Vereinbarungen, an die noch offenen Punkte. Würde seine Strategie tatsächlich aufgehen, dann wäre das allein schon durch die Nutzung der sich aus dem Firmenzusammenschluß ergebenden Synergien ein kolossaler Gewinn für die Fortentwicklung seines Unternehmens. Er könnte jetzt endlich . . . aber da erkannte er auch schon die Autobahnabfahrt Ulm-West. Automatisch reduzierte das Fahrzeug die Geschwindigkeit und bog in die Abbiegespur ein. Nun dauerte es höchstens noch fünf Minuten bis nach Hause.
Sein Haus war sehr schön gelegen, in einem nördlichen Außenbezirk der Stadt Ulm. Hier war im Laufe der letzten Jahrzehnte mit fortschreitendem Ausbau der sogenannten Wissenschaftsstadt, auch Science Park oder Brain Town genannt, einer Ansammlung von Universität und Hochschule sowie diversen Forschungsinstituten und anderen forschungsnahen Einrichtungen und Industriebetrieben, eine sehr große Trabantenstadt für die dort Beschäftigten entstanden. Und hier hatte Wang Qiang, der Inhaber und Geschäftsführer der im Areal der Wissenschaftsstadt gelegenen Roboter-Firma BrainTech , vor etwa fünf Jahren ein 800 Quadratmeter großes Baugrundstück von der Stadt angeboten bekommen und sofort zugegriffen. Denn hier stimmte nach seiner Vorstellung so ziemlich alles. Die ganze Infrastruktur war beinahe beispiellos: Kurze innerörtliche Verbindungswege, Anbindung an Autobahnen und Schnellzüge sowie an einen Flughafen, städtische Ämter, Zubringer- und Entsorgungsdienste, sportliche Einrichtungen, Schulen und Kindergärten sowie ausreichend Einkaufsmöglichkeiten und nette Lokale. Trotzdem konnte man das Gefühl haben, in einem Park zu leben, denn breite Grüngürtel und kleine, künstlich angelegte Seen und Bachläufe lockerten die Bebauung auf. Eine phantastische Wohnlage. Und auch die ganze Atmosphäre, die von dieser Anlage und ihren Bewohnern ausstrahlte, hatte ihn sogleich in ihren Bann gezogen. Man sah es dieser Trabantenstadt wirklich nicht an, daß sie einst – unter vorbildlicher Integration der schon vorher dort angesiedelten Gemeindeeinrichtungen – praktisch komplett auf dem Reißbrett entstanden war. Dies erfuhr er erst viel später und wollte es kaum glauben, daß hier schon vor über drei Jahrzehnten die Stadtplaner und Landschaftsarchitekten offenbar Hand in Hand mit Industrie, Handwerk und Handel sowie Naturschutzverbänden und interessierten Bürgern weit vorausschauend auf die ökonomischen und die ökologischen Belange zukünftiger Generationen ein ganzheitliches Konzept entwickelt und damit eine Meisterleistung in Sachen Lebensqualität abgeliefert haben, das einen an paradiesische Zustände denken ließ.
Der Erwerb des Grundstücks, das Planungs- und Genehmigungsverfahren sowie alle damit verbundenen behördlichen Vorgänge waren erstaunlich unbürokratisch und unkompliziert abgelaufen, so daß Qiang sofort mit der Umsetzung seines Bauprojektes beginnen konnte.
Bei der Bauplanung hatte er sich ganz nach der Jahrtausende alten chinesischen Tradition des ‚Feng-Shui‘ gerichtet, denn, obgleich er sich selbst nicht für abergläubisch hielt, orientierte er sich bei seinem Denken und Handeln doch immer wieder an den von alters her überlieferten Gebräuchen und Regeln seiner Heimat. Er konnte es rational nicht begründen, aber irgendwie hatte er das Gefühl, mit der ihm vertrauten Tradition im Einklang stehen zu müssen, um sich wirklich wohl fühlen und gut schlafen zu können.
Alles schien wunderbar gelungen, denn die Jahre, die Qiang dort mit seiner Familie bisher verbracht hatte, waren voller Glück, beruflicher Erfolge und gesellschaftlicher Anerkennung. Eine bessere Bestätigung für seine Überzeugung konnte er gar nicht bekommen.
Inzwischen war er zu Hause angekommen. Die Toreinfahrt und das Garagentor öffneten sich automatisch, so daß er ohne Halt einfahren konnte. Danach schlossen sich die Tore wieder. Nachdem er das Fahrzeug abgestellt hatte, zeigte sein Bord-Display die gefahrenen Kilometer und die dafür erforderlichen Straßenbenutzungsgebühren mit der Bitte um Kenntnisnahme und Bestätigung an. Qiang sah keinen Grund, zu widersprechen. Also drückte er auf die Bestätigungstaste, wonach der angezeigte Betrag automatisch von seinem Konto abgebucht wurde.
In der Garage wurde er schon von Robby erwartet, der ihm seine Tasche und seine Jacke abnahm, um sie ins Haus zu tragen. „Hallo Robby“, sagte er, „ist alles okay hier?“
„Guten Abend, Qiang“, antwortete Robby höflich. „Ja, das Entspannungsbad ist angerichtet, das Essen ist für 19.30 Uhr vorbereitet. Chan ist noch in einem Seminar, sie wird gegen 19.00 Uhr hier sein. Long, Jiao und Jie sitzen an ihren Computern und bereiten sich auf die nächsten Prüfungen vor.“
„Prima, dann nehme ich jetzt als erstes mein Bad, anschließend mache ich noch eine halbe Stunde Qi Gong , und dann bin ich genau zum Essen fertig“, freute sich Qiang. Er war zirka 1,85 Meter groß und von sportlich-schlanker Figur. Mit seinem pech-schwarzen, kurzgeschnittenen Haar, einem vergleichsweise schmalen Gesicht, aus dem eine sehr scharf geschnittene, schmale Nase herausragte, und seiner sehr glatten Haut machte er – rein äußerlich betrachtet – einen sehr jungenhaften Eindruck, während sein selbstbewußtes und vornehmes Auftreten sowie seine ausgesprochen höflichen Umgangsformen einen wahren Gentleman zeigten.
Als es halb acht geworden war, kam Qiang frisch gestärkt und gutgelaunt aus seinem Meditationsraum, wo ihm die Qi Gong -Übungen, eine seit etwa 6.000 Jahren in China praktizierte Körperübung in Form bestimmter Bewegung, Atmung und meditativer Konzentration, zu seinem offenkundig wunderbaren Zustand völliger innerer Ruhe, Ausgeglichenheit und Gelassenheit verholfen hatten.
Im Wohnzimmer begrüßte er Chan, seine Frau. Ihr Name bedeutet so viel wie „schön“, „anmutig“. Und in der Tat war sie eine bildschöne Frau, machte ihrem Namen alle Ehre. Besonders ihre wunderschön geformten Mandelaugen mit den langen Wimpern schienen ihrem ausgesprochen hübschen Gesicht den letzten Schliff zur Vollkommenheit zu geben. Sie hatte schulterlange, pech-schwarze Haare, die sie üblicherweise an den Seiten zurückgekämmt und am Hinterkopf zusammengesteckt trug. Sie war etwa 1,75 Meter groß und wie ihr Mann von sportlich-schlanker Figur. Auch sie hatte heute einen außergewöhnlich langen Tag an der Uni Ulm, wo sie als Dozentin für Neuroinformatik tätig war, hinter sich, denn normalerweise dauerte ihr Arbeitstag höchstens bis etwa 16 Uhr.
Sie tauschten kurz ihre Tageserlebnisse aus und riefen dann die Kinder herein, die sich nach Beendigung ihrer Computerarbeiten gerade noch im Garten ein wenig in der traditionellen chinesischen Kunst der Selbstverteidigung – Tai Chi Chuan, auch bekannt als Schattenboxen – übten.
Mit Ausnahme von Long, der sich in beiden Stilrichtungen – neben Tai Chi auch in Kung Fu – übte, interessierten sich die drei Kinder insbesondere für das Tai Chi Chuan ( Chuan heißt Faust ), mit dem sie täglich Körper und Geist trainierten – anfangs vor allem Ausdauer und Körperbeherrschung, im fortgeschrittenen Stadium stärker die innere Konzentration und Ausgewogenheit der Bewegungen betonend. Mit zunehmender Beherrschung der üblicherweise im Zeitlupentempo ausgeführten Bewegungen übten sie sich auch sehr gerne und ausgiebig im schnellen und effizienten Ablauf dieser Übungen in simulierter Kampfhandlung.
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