Nachdem sie sich gewaschen hatten, kamen sie lebhaft diskutierend ins Wohnzimmer und umarmten ihre Eltern zur Begrüßung – drei sehr aufgeweckte und hübsche Kinder.
„Das wird aber auch Zeit, daß ihr endlich da seid“, sagte Long mit leicht vorwurfsvoll klingendem Ausdruck, „wir haben schon einen riesigen Hunger.“
Long, der Älteste, war 14 Jahre alt, von drahtiger, sportlich durchtrainierter Gestalt und fast schon so groß wie sein Vater. Geistig war er, wie seine Eltern, technisch-wissenschaftlich orientiert. So hatte er sich schon früh für deren Arbeit, die Robotertechnik und die Neuroinformatik, interessiert. Es faszinierte ihn der Gedanke, eines Tages künstliche Menschen zu schaffen, die den natürlichen ebenbürtig oder sogar überlegen sein würden. Er betrachtete es als die Herausforderung schlechthin und war begierig, sie anzunehmen.
Seine Schwester, Jiao – die „Bezaubernde“, „Liebenswerte“, war zwei Jahre jünger als er. Ein sehr aufgewecktes, beredtes Mädel. Sie interessierte sich – einer ausgeprägten weiblichen Neugier folgend – ganz allgemein für den Lauf der Welt in seiner Gesamtheit, also für alles, was so auf der Welt in der Vergangenheit passierte und in der Zukunft passieren könnte, die Geschehnisse und ihre Entwicklung. Weil dies ein sehr weites Feld war, pflegte sie ein Zeitfenster herausgehobenen Interesses einzugrenzen: Die neuzeitliche Historie der letzten 200 Jahre und die Vorausschau auf die zukünftigen zwanzig, dreißig Jahre. Sie wußte noch nicht, wie sie sich beruflich orientieren würde, ob sie sich eher der Historie oder vielleicht doch lieber der Zukunftsforschung widmen sollte. Jedenfalls beschäftigte sie sich für ihr Alter erstaunlich intensiv mit den historischen Abläufen wie auch mit den publizierten Zukunftsprognosen, und dabei speziell mit den evidenten oder scheinbaren Zusammenhängen, konsumierte sehr viel einschlägige Literatur und debattierte gern auch im Familienkreis darüber.
Der Jüngste, Jie, interessierte sich – ungeachtet seines Alters von gerade mal zehn Jahren – bereits sehr für Wirtschafts- und Gesellschaftsfragen, aber auch für Philosophie, Physik und vieles mehr. Und er nutzte gern jede sich bietende Gelegenheit, mit anderen über Gott und die Welt zu diskutieren. Aber gerade weil er so vielseitig interessiert war, hatte er noch keine konkrete Vorstellung, was er später einmal studieren würde.
Alle Drei gehörten in ihrer jeweiligen Jahrgangsstufe zu den besten Schülern. Sie waren vielseitig interessiert, lernbegierig, fleißig, und doch nicht streberhaft. Ihre schnelle Auffassungsgabe erleichterte ihnen das Lernen. Und die vielen angeregten Unterhaltungen im Familienkreis zu diversen Themenkomplexen haben ihre vielseitigen Interessen geweckt.
Sie waren von ihren Eltern entsprechend der kulturellen Tradition der Chinesen im Sinne der konfuzianischen Soziallehre erzogen worden. Das bedeutet Ehrerbietung, Pflichtgefühl und unbedingten Gehorsam der Kinder gegenüber ihren Eltern, Anerkennung der Autorität der Eltern wie der älteren Generation generell gegenüber der jüngeren. Strenge Hierarchie, klar definierte Rollen, Rechte und Pflichten sind in der Soziallehre des Konfuzius die Grundpfeiler, die letztlich alle der obersten Maxime, der Herstellung und Erhaltung der sozialen Harmonie, dienen sollen.
Qiang und seine Frau waren von ihren Eltern in dieser Tradition erzogen worden und pflegten sie in ihrer Familie auch weiterhin. Aber sie waren weit herumgekommen in der Welt durch ihre Geschäfte und hatten auf diese Weise zahlreiche Kontakte mit anderen Kulturen. Sie waren gewissermaßen Wanderer zwischen den Welten, kannten die eine wie die andere. Unabhängig davon hatten sich in den letzten Jahrzehnten, eben auch im Zuge der Globalisierung und der damit verbundenen zahlreichen interkulturellen Kontakte, nach und nach bestimmte Gepflogenheiten in der geschäftlichen Kommunikation und Interaktion herauskristallisiert, die im internationalen Business inzwischen praktisch zum Standard geworden waren. Qiang und Chan waren bestens vertraut damit, und diese Einflüsse waren natürlich auch an ihnen nicht spurlos vorübergegangen. So war es nicht verwunderlich, daß sie die alten konfuzianischen Regeln nicht allzu streng handhabten. Nichtsdestotrotz standen sie zu ihrer eigenen Tradition mit ihren Werten, wollten diese auf keinen Fall verleugnen. Sie suchten das eine mit dem anderen bestmöglich zu verbinden – in der Gesellschaft, im Beruf und in der Familie.
Draußen war es inzwischen fast stockdunkel geworden, und sie begaben sich in das Eßzimmer. Hier war es taghell, als schiene direkt im Zimmer die Sonne.
Das Prinzip der Glühlampen, wie es einstmals von Thomas Edinson entwickelt worden war, hatte längst ausgedient. Das Wort „Lampe“ war schon fast ganz aus der Mode gekommen, jetzt sprach man nur noch von „Licht“. Man beherrschte inzwischen die Technik bis zu den sehr hohen Frequenzen im sichtbaren Bereich. Und so lag es nahe, das Tageslicht in die Wohnung zu holen. Dazu hatte man in jedem Raum eine winzige, praktisch nicht sichtbare Antenne an der Decke, die elektromagnetische Wellen im sichtbaren Frequenzbereich abstrahlte, deren Eigenschaften über eine elektronische Regelung vorgegeben werden konnten.
„Ach, das ist mir jetzt aber zu ungemütlich“, sagte Chan gleich beim Eintreten. „Ich möchte es nicht so grell haben. Wie seht ihr das?“
„Natürlich, wie du wünschst mein Schatz. Schaffen wir eine angenehmere Atmosphäre“, antwortete Qiang spontan und sprach dann ein Kommando in den Raum: „Licht wärmer!“
Die Lichtfarbe änderte sich langsam und kontinuierlich von weiß zu gelb oder, wie man auch sagte, von kaltem zu warmem Licht.
„Stopp!“ sagte Chan, als sie das Gefühl hatte, daß jetzt ein angenehmer Warmton erreicht war. Und augenblicklich wurde der Einstellvorgang beendet. „Ist es euch auch so recht?“ fragte sie die anderen Familienmitglieder.
„Ja, ist okay!“ kam es vielstimmig.
„Vielleicht doch noch eine Idee dunkler?“ fragte Chan nochmal nach.
„Von mir aus“, kam es wieder vielstimmig.
„Licht dimmen!“ kommandierte Chan, und die Lichtintensität nahm langsam und gleichmäßig ab. „Stopp!“ rief sie wieder, und auch dieser Einstellvorgang war beendet.
„Jetzt gefällt es mir gut“, bemerkte sie zufrieden, „so ist es angenehm. Für euch auch?“
Die anderen nickten.
Aber ihrer Mimik nach schien sie doch noch nicht zufrieden mit der Einstellung. „Hm . . ., vielleicht doch wieder eine Idee heller?“ fragte sie nach kurzem Zögern und schaute dabei leicht verschmitzt lächelnd in die Gesichter der anderen.
Long wollte gerade eine Unmutsäußerung anbringen, als er bemerkte, daß seine Mutter herzhaft zu lachen anfing. Da wußte er sofort Bescheid: „Ich glaube, du hast dir in letzter Zeit zu viele alte Videos von diesem Klassiker, dem Loriot, angesehen, was?“
Chan prustete vor Lachen: „Ja, ich finde diese Szenen immer wieder köstlich! Die kleinen Schwächen der Menschen – wirklich fein beobachtet und meisterhaft wiedergegeben, einfach köstlich anzuschauen!“
Alle lachten mit.
In der Küche dampften drei große Kesselpfannen, sogenannte Woks, vor sich hin und verströmten einen köstlichen, appetitanregenden Duft nach geröstetem Sesam, nach Soja und Sirup, Ingwer und Zwiebeln, Knoblauch, Chili und Cayenne, nach Fisch, Fleisch und Gemüse. Alles war nur kurz, aber heftig in siedendheißem Öl angebraten worden, so daß das Gemüse Biß und Vitamine behielt und Fisch und Fleisch zart und saftig blieben.
Der Tisch war bereits gedeckt – ein großer runder Tisch, dessen mittlerer Teil drehbar war. Auf diesem wurden nacheinander die Schüsseln mit den verschiedenen Speisen abgestellt, so daß jede Schüssel – nach entsprechender Drehung des Mittelteils – für jeden bequem erreichbar war.
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