Es hatte in der Anfangszeit immer mal wieder das eine oder andere Verständigungsproblem gegeben, was niemanden wirklich verwunderte, weil keiner von ihnen die unterschiedlichen, durch die jeweilige Kultur geprägten Interaktionsmuster per se beherrschte. Theoretisch hatten sich sicher alle vorher schon einmal mit dieser Problematik auseinandergesetzt, man lebte ja schließlich in einer „globalisierten“ Welt, aber es ist eben ein Unterschied, ob man sich in der Literatur etwas anliest oder in der Praxis anwenden muß. Während Qiang durch seine frühen Auslandsaufenthalte mit der westlichen Kultur schon vergleichsweise gut vertraut schien, hatten seine – durch die Bank noch relativ jungen – europäischen Kollegen vorher wenig direkte Berührung mit der chinesischen Kultur. Lediglich Deborah, die schon einige Zeit in Shanghai gelebt und an der renommierten China Europe International Business School ihren Master of Business Administration gemacht hatte, beherrschte die chinesische Sprache hinreichend gut. Aber selbst innerhalb des westlichen Kulturraumes gab es ja trotz aller Ähnlichkeiten und Vereinheitlichungsbemühungen immer noch nennenswerte Unterschiede, die in den einzelnen Regionen sogar ausdrücklich gepflegt wurden. Nicht jeder verstand beispielsweise den trockenen und häufig derben englischen Humor. Und nicht jeder kam mit der übertriebenen Gründlichkeit der Deutschen zurecht. So mußten sie alle erst lernen, den anderen wirklich richtig zu verstehen, und zwar im täglichen Umgang miteinander – learning by doing , nannten sie das. So ein Lernprozeß brauchte naturgemäß einige Zeit. Aber Qiang hatte von Anfang an nachdrücklich dafür gesorgt und vorbildhaft vorgelebt – und damit hat er diesen Lernprozeß ganz sicher auch beschleunigt –, daß in seiner Firma eine offene, vertrauensvolle, sehr kollegiale Atmosphäre herrschte, in der der Teamorientierung und der Aufrechterhaltung der sozialen Harmonie ein sehr hoher Stellenwert beigemessen wurde. Mißverständnisse und Fehler wurden offen angesprochen, aber nicht kritisiert, sondern gemeinsam ausgeräumt. Konfrontierende Äußerungen sollten unter allen Umständen vermieden werden. Deshalb war er stets bemüht, eine harmonische Gesprächsatmosphäre zu schaffen, die einen aggressiven Gesprächsstil, wie er im Westen des öfteren gepflegt wurde, gar nicht erst aufkommen ließ.
Da man sich inzwischen seit der Firmengründung vor etwa fünf Jahren kannte und erfolgreich zusammenarbeitete, hatte jeder eine hinreichend starke Sensibilisierung für die unterschiedlichen kulturellen Prägungen und damit auch das notwendige Verständnis für die verschiedenen Kommunikations- und Verhaltensweisen der anderen erworben, um kulturelle Regelverletzungen zu vermeiden. Die europäischen Kollegen hatten mit der Zeit auch gelernt, „zwischen den Zeilen zu lesen“, das heißt, nichtverbale Mitteilungen, im situativen Kontext verborgene Informationen, „verschlüsselte“ Botschaften wahrzunehmen und zu entschlüsseln. Das war notwendig für sie, um ihren Chef richtig zu verstehen. Denn obwohl Qiang stets sehr bemüht war, seine Interaktionsweise derjenigen seiner europäischen Kollegen anzupassen, passierte es ihm unwillkürlich doch immer mal wieder, sich in Andeutungen auszudrücken und seinen Zuhörern zu überlassen, das Unausgesprochene selbst zu interpretieren. Seine tiefe Verwurzelung in der chinesischen Kultur und Tradition ließ sich eben nicht so ohne weiteres ablegen, vielmehr prägte sie sein Denken und Handeln ganz selbstverständlich und automatisch. Für ihn war es Routine. Er hatte von klein auf ein feines sensorisches Gespür entwickelt und gelernt, Andeutungen, Unausgesprochenes und verschlüsselte Botschaften wahrzunehmen und zu interpretieren. Und gewöhnlich pflegte er, sich selbst normalerweise in der gleichen Weise auszudrücken. Die Zuhörer mußten deshalb nicht nur darauf achten, was er sagte, vielmehr mußten sie gewissermaßen zwischen den Zeilen lesen, mußten also versuchen zu interpretieren, was er wohl tatsächlich gemeint haben könnte. Wenn er sich allerdings im Gespräch einem verdutzten oder verständnislos blickenden Gesicht gegenüber sah, dann erinnerte er sich aber immer gleich wieder und erläuterte bereitwillig seine Ausführungen.
Dem „Gesicht“ im Sinne der Gesichtswahrung wird im chinesischen Sozialverhalten übrigens eine ganz besondere Bedeutung, ein sehr hoher Stellenwert beigemessen, und entsprechend schwer wiegt ein „Gesichtsverlust“, zum Beispiel als Folge von Verstößen gegen die von der Gesellschaft als verbindlich erachteten Werte und Normen oder auch nur von unerfüllten Erwartungen an seine Person. So ein Gesichtsverlust führt bei den Betroffenen in aller Regel zu großer Verlegenheit oder Schamgefühl und stört damit die nach Konfuzius geltenden Prinzipien für die zwischenmenschlichen Beziehungen, die vor allem der Herstellung und Erhaltung der sozialen Harmonie dienen sollen. Deshalb achten die Chinesen beim Reden wie im Handeln sehr darauf, niemanden leichtfertig zu beschämen, sondern bemühen sich vielmehr, ihnen „Gesicht zu geben“.
Die europäischen Kollegen hatten damit in der Regel ein Problem, denn ihr ganzes Reden und Handeln ist traditionell viel stärker durch selbstbewußtes, intellektuelle Überlegenheit ausstrahlendes Auftreten und durch eine gelegentlich sehr aggressive, unerbittlich fordernde Rhetorik geprägt. Sie konfrontieren ihre Gesprächspartner üblicherweise gleich zu Beginn mit den harten Fakten und liefern dann ihre Begründungen nach, während die Chinesen es gewohnt sind, zunächst erst mal – nach europäischem Verständnis – „lange um den heißen Brei“ herumzureden, um sich dann ganz langsam und allmählich an die relevanten Aussagen heranzutasten. Sie fühlen sich oft düpiert von dem konfrontierenden westlichen Gesprächsstil, während die Europäer häufig gelangweilt und schon ermüdet sind, wenn ihre chinesischen Gesprächspartner endlich auf den Punkt kommen. Auch das Gesprochene selbst, die inhaltliche Aussage wird unterschiedlich bewertet – die Schwerpunkte liegen hier auf der Logik und dort auf dem chinesischen Verständnis von Vernunft. Während eine Aussage für Europäer vor allem logisch sein muß, gilt es den Chinesen als entscheidender, daß sie auch vernünftig ist im Sinne einer Übereinstimmung mit der menschlichen Natur, seiner Behutsamkeit, Geduld und Selbstzurücknahme in den zwischenmenschlichen Beziehungen sowie in der Vermeidung aller Extreme. Wer sich in einer Auseinandersetzung dem Vorwurf „bu jiang-li“, das heißt: „Er redet keine Vernunft“, aussetzt, der hat sein Gesicht verloren. Das ist die schlimmste Mißbilligung. „Alles Unheil kommt davon, daß man den Mund zu weit auftut“, lautet ein chinesisches Sprichwort. Deshalb gehen die Chinesen mit sprachlichen Äußerungen gewöhnlich zurückhaltend um und vermeiden Konflikte, wie sie leichthin in Diskussionen durch Rede und Gegenrede entstehen können. Der Austausch von Informationen und Fakten, nach westlicher Auffassung das Hauptziel einer Kommunikation, ist bei chinesischen Gesprächspartnern eher Nebensache; für sie ist die verbale Kommunikation in erster Linie ein Mittel, um Beziehungen zu beeinflussen und zu festigen.
Für Marketing and Sales hatte Qiang mit Deborah Brown ganz bewußt einen English native speaker eingestellt, denn Englisch war nun mal die Weltsprache schlechthin. Die Globalisierung hatte es mit sich gebracht, daß Englisch sich als einheitliche Verkehrs- und Geschäftssprache durchsetzte – und das, obwohl um die Jahrtausendwende nur etwa 320 Millionen Menschen Englisch gegenüber 1,3 Milliarden Menschen Chinesisch als Muttersprache hatten. Aber China war zu jener Zeit noch in der Entwicklung zur Weltmacht, hatte damals einfach nicht die Bedeutung wie die führenden westlichen Industrienationen, die sich im Geschäftsverkehr und selbst im Tourismusbereich alle des Englischen befleißigten. Inzwischen haben sich die Verhältnisse dramatisch geändert; jetzt ist China die Weltmacht schlechthin. Viele Nicht-Chinesen in aller Welt lernen inzwischen die chinesische Sprache. Nichtsdestotrotz hatte sich Englisch längst als Weltsprache durchgesetzt und fest etabliert. Auf dem Wege zur Weltmacht hatten mehr und mehr chinesische Jugendliche Englisch in den Schulen gelernt, um im internationalen Handel bessere Chancen zu haben. Auch dieser Trend hatte die Vormachtstellung von Englisch weiter unterstützt. Und gerade weil Englisch im Geschäftsverkehr so wichtig war, hatte Qiang den Marketing- und Sales-Bereich britisch besetzt.
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