Es war Carina, die ernst wurde: „Ich habe das wirklich ernst gemeint Hanif. Es freut mich für euch. Du hast nur gerade unbewusst fast die gleichen Worte verwendet wie Rayan, als er mich damals von hier weghaben wollte. Daran musste ich gerade denken.“
Jetzt wurde Hanifs Gesicht ein wenig rot und verlegen antwortete er: „Verzeih‘ mir! Das wusste ich nicht, ich wollte nicht irgendwelche alten Wunden wieder aufreißen.“ Und ein klein wenig schämte er sich dafür, dass diese Anspielung von Carina auf alte Zeiten ihm sehr gelegen kann, weil sie davon ablenkte, den Grund für Leilas plötzlichen Sinneswandel zu vertiefen. So musste er seine Scheicha wenigstens nicht anlügen.
Carina stieß ihn spielerisch mit dem Ellenbogen an: „Ach Blödsinn! Ich muss mich ja nur umsehen, um zu merken, wie sehr sich seitdem alles verändert hat. Heute weiß ich, dass Leila mit dir zusammen ist - und was noch viel besser ist: dass ich mit Rayan VERHEIRATET bin!“, sie hielt nachdenklich inne.
„Wer hätte das gedacht, was? Und zudem bin ich die Mutter seiner Kinder. Nein! Die Zeiten haben sich einfach zu schnell geändert. Komm‘ …“, Sie hatten das Haus inzwischen fast wieder erreicht und Carina wollte hineingehen. Doch Hanif hielt sie zurück: „Was hast du eben gesagt? Seiner KINDER? Plural?“
Als Carinas Gesicht knallrot wurde, lachte Hanif laut und zog sie fest in seine Arme. „Du hast so schöne Nachrichten und sagst mir das erst JETZT?“, wieder drückte er sie und mit Erstaunen sah sie, dass seine Augen ein klein wenig feucht glänzten.
Die stürmische Reaktion ihres „Leibwächters“, freute Carina so sehr, dass sie antwortete: „Genau! In gewisser Weise wirst du also Onkel, stell‘ dir das vor …“, sie spielte damit auf die Tatsache an, dass Rayan Hanif vor einigen Monaten von seinem Lebenseid befreit und ihn als seinen Bruder anerkannt hatte. Doch sofort war da wieder dieser Schatten auf dem Gesicht des Tarmanen. Sein innerer Schmerz war unverkennbar, als er sagte: „Schön wär‘s.“
Bevor Carina etwas entgegnen konnte, kam einer der Bediensteten auf sie zu, um sie darüber zu informieren, dass das Mittagessen zubereitet war. Also schwieg sie und drückte nur einmal kurz seinen Arm.
10. Januar 2016 - Zarifa: Krankenhaus - Nur ein Ausweg
Als Ahmad ans Krankenbett trat, sank er kraftlos in den dort platzierten Besucherstuhl. Seine zitternden Beine hätten ihn keine Sekunde länger getragen. Erst als sich sein Blick trübte, wurde ihm bewusst, dass die Tränen, die er so lange zurückgehalten hatte, inzwischen frei über seine Wangen liefen. Er war froh, dass er alleine im Zimmer war und niemand ihn weinen sah. Wie sonst hätte er seine tiefen Emotionen erklären sollen? Andererseits war es in den letzten Wochen nicht ungewöhnlich, die sonst so friedlichen und vor allem glücklichen Menschen in Zarifa weinen zu sehen. Es gab wohl niemanden, der seit dem Eindringen des Skorpions und den Ereignissen Anfang Dezember nicht bedrückt und traurig wäre. Der völlig unerwartete Angriff, der im Tod des jungen Aleser gegipfelt hatte und ihren Scheich in einem Zustand zwischen Diesseits und Jenseits zurückließ, hatte jeden einzelnen Tarmanen tief erschüttert. Im Nachhinein betrachtet kam es vielen wie ein böses Omen vor, dass man am Morgen dieses unglückbringenden Tages den alten Anbar ermordet aufgefunden hatte. Der sanftmütige Mann war wohl kaum für irgendjemanden eine Gefahr gewesen. Ein Warnzeichen, das man leider unterschätzt hatte. Aber wie hätte jemand ahnen sollen, dass dieses Ereignis nur der Auftakt zu mehr Leid noch am selben Tag sein würde?
„ICH hätte es wissen müssen“, sagte sich Ahmad. Schnell verbannte er die Erinnerung an Anbars Tod. Er war der einzige noch lebende Zeuge, der Licht in die Spekulationen würde bringen können. Nur mit Mühe unterdrückte er den Schauer, den sein schlechtes Gewissen ihm aufzwang. „Es ist alles meine Schuld!“, dachte er verzweifelt. Doch nun konnte er nur noch nach vorne, der Weg zurück war ihm versperrt. Das war Ahmad klar. Oder vielmehr hatte Sedat ihm das mehr als nachdrücklich dargelegt. Er hatte versucht, auf Zeit zu spielen, doch nachdem sein Erpresser erfahren hatte, dass der Doktor plante, in den nächsten Tagen den Scheich langsam aus seinem Koma erwachen zu lassen, hatte er ihm unmissverständlich gesagt, dass seine Geduld nun abgelaufen sei. Entweder Ahmad tat, was von ihm verlangt wurde, oder Sedat würde dafür sorgen, dass die Tarmanen erfuhren, wer den Skorpion und seine Männer hereingeführt hatte.
Ahmads Blick fiel auf die Gestalt vor ihm im Krankenbett. Der sonst so stolze Scheich lag wehrlos vor ihm, sein Leben abhängig von Maschinen. Mit seinen 1,89 m und Muskeln an allen richtigen Stellen hatte er es bei der Damenwelt stets leicht gehabt. Dieser Mann war wirklich von Allah gesegnet: Er hatte sowohl Geld als auch Macht und noch dazu sah er blendend aus. Angefangen bei den kräftigen, dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren bis hin zu den gut gepflegten, makellosen Zähnen, die einen attraktiven Kontrast zu seinem Teint bildeten, der verriet, dass er sich viel an der frischen Luft aufhielt. Und dazu diese einmaligen Augen, die nicht nur Frauen in ihren Bann zu ziehen pflegten.
Doch nun war alles anders: Das Gesicht hatte zwar nicht mehr die gräulich- weiße Färbung, die der schwere Blutverlust verursacht hatte, doch wirkte die mehr und mehr verblassende, sonst für ihn so typische Sonnenbräune wie ein Zeichen schwindenden Lebens. Die vielen Maschinen, die um das Bett herum verteilt waren, waren Angst einflößend. Das regelmäßige Geräusch der Beatmungsmaschine alleine war schon furchtbar. Dazu die Infusionsschläuche und dann der Blasenkatheter - was für ein Leben war das denn noch?
Früher hatte er Respekt und auch ein wenig Furcht vor dem ihm nun schutzlos ausgelieferten Anführer gehabt. Jetzt stellte Ahmad überrascht fest, dass dessen sonst so beeindruckende Präsenz völlig verschwunden zu sein schien. „Vielleicht ist das ja ein Zeichen, dass es auch ohne mein Zutun zu Ende geht?“, fragte sich Ahmad mit einem Funken von Hoffnung. „Das würde meine verzweifelte Situation von selbst lösen“, sagte eine feige Stimme in seinem Inneren. Dann wurde ihm bewusst, wie egoistisch er sich gerade verhielt. Ihr Scheich rang mit dem Tod, und er dachte nur an sich selbst!
Ahmad zwang sich, jedes Detail des vor ihm Liegenden in sich aufzunehmen. Wohl zum ersten Mal gelang es Ahmad, den Mann zu sehen, nicht nur die Macht, die er verkörperte. „Allah! Was ich hier tue, ist, mich auf einen kaltblütigen Mord vorzubereiten!“, wurde ihm mit einem Schlag klar.
Wobei von „kaltblütig“ wohl keine Rede war, denn Ahmad war außer sich vor Angst und Schuldbewusstsein. Doch wenn Sedat seine Drohung wahr machte, war sein Leben keinen Pfifferling mehr wert. Die Tarmanen würden ihn sich vorknüpfen. Und sein Tod würde sehr langsam und vor allem schmerzvoll sein. Es gab keinen anderen Ausweg, als das zu tun, was Sedat von ihm verlangte. Er war noch so jung - gerade einmal sechsundzwanzig. Nur wenn er sich fügte, konnte er unauffällig sein Leben weiterführen wie bisher. Das zumindest redete er sich ein. Zudem war seit einigen Tagen Leila hier, die Schutzbefohlene des Scheichs, die neben Julie und der Scheicha viele Stunden am Bett ihres Herrn verbrachte - es machten den Zugang für Ahmad nicht gerade leichter. Wer weiß, ob es noch einmal gelingen würde, mit ihm allein zu sein. Dies war also seine letzte Chance, seine Tat zu begehen.
Dieser Gedanke brachte Ahmad dazu, die kleine Ampulle aus seiner Hosentasche zu ziehen. Ein wenig hatte er gehofft, dass Jassim sie finden und ihm abnehmen würde. Dann hätte er einen Grund gehabt, sein Vorhaben abzubrechen. „Doch dann hätte der Leibwächter auch sofort gewusst, was ich vorhabe“, dachte der Diener. Was wiederum zum gleichen Resultat geführt hätte: dass man ihn als das entlarvt hatte, was er war: ein Verräter. Ein Verräter und Mörder! Wie hatte es nur so weit kommen können?!
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