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1936 - Zarifa: Großes Tal - Stille und Sachlichkeit
„Was kann ich für dich tun?“, fragte Scheich Amir in diesem Moment mit höflichem Tonfall und riss sie zurück aus der süßen Erinnerung in die Gegenwart.
„Ich … ich muss mit …“, stotterte Rabia verstört. Zu spät fiel ihr ein, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie ihn anreden sollte. In der Intimität und Dunkelheit der Nacht hatte sie seinen Vornamen benutzt. Genau genommen hatte sie ihn sogar hinausgeschrien in ihrer Lust.
„Wie eine Hure“, sagte eine gehässige Stimme jetzt in ihrem Kopf.
In diesem Moment trommelte der Scheich mit seinem Füllfederhalter ungeduldig auf die vor ihm liegenden Papiere. Die Nachricht war klar: „Die Zeit tickt“, und erneut erschrak Rabia bis ins Mark. Wo war der gefühlvolle Mann geblieben, den sie dort draußen an der Quelle kennengelernt hatte? Dieser rücksichtsvolle Liebhaber würde sie hier nicht so hilflos stehen lassen. Er hätte sie aufgefordert sich zu setzen und ihr lächelnd etwas zu trinken angeboten.
„Ich muss mit Euch reden, Exzellenz“, brachte sie hervor. Exzellenz? Was für eine unmögliche Situation! Vor ihr stand der Vater ihres ungeborenen Kindes und sie sprach ihn an, als wäre er ein Fremder.
„Ich bin schwanger!“, platzte sie heraus, bevor sie der Mut verließ und sie einfach aus dem Büro flüchten würde.
Einige Sekunden lang war es still bis auf das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims.
Ticktack, ticktack … brannte sich das Geräusch in ihr Gehirn ein. „Sag doch was zum Teufel!“, flehte sie in Gedanken, ihre Hände verlegen vor ihrem Körper knetend.
Immerhin hatte sie ein kurzes Aufblitzen in seinem ansonsten heute so betont neutralen Blick sehen können. Doch wo blieb das Lächeln der Freude? War ein Kind nicht eigentlich eine gute Nachricht?
„Wenn ich korrekt informiert bin, bist du unverheiratet“, war dann endlich der sachliche Kommentar.
„ WAS?!“, schrie es in Rabia, „ ist das alles, was ihm einfällt? Auf was will er damit hinaus?“
Zumindest auf die letzte Frage erhielt sie schneller als ihr lieb war, eine Antwort. Denn genauso unpersönlich wie zuvor fragte der Scheich sie, wer der Vater des Kindes sei. In diesem Moment stürzten alle ihre Hoffnungen auf eine glückliche Lösung in sich zusammen und sie fühlte Übelkeit in sich aufsteigen.
21. Dezember 2015 - Zarifa: vor dem Herrenhaus - Die Liste der Freunde
Carina musste lachen, als Hanif sich während des Essens wie ein Schuljunge zu ihr herüberbeugte und ihr verschwörerisch ins Ohr flüsterte: „Wer weiß sonst noch davon?“
Dann schüttelte sie den Kopf: „Nur du!“
„Ich kann es echt nicht fassen, dass du es uns nicht früher gesagt hast! Du musst es nachher gleich Tahsin erzählen.“
Bevor Hanif in seiner Freude zu laut wurde und die Diener hören konnten, worüber sie sprachen, erklärte Carina leise. „Weißt du … ich wollte immer, dass Rayan es als Erster erfährt“, nun füllten erneut Tränen ihre blaugrünen Augen, doch energisch blinkte sie diese weg.
Entgeistert ließ Rayans Freund sein Besteck sinken. „Soll das heißen, er weiß es noch gar nicht?“
Und als er Carinas verzweifeltes Kopfschütteln sah, sprang er auf und zog sie erneut an sich. Er konnte gut nachvollziehen, wie sie sich fühlen musste.
Einer der Bediensteten kam ins Zimmer und schreckte entsetzt zurück, als er die beiden in einer so vertrauten Umarmung sah. Schnell machte er kehrt und eilte in die Küche zurück. Hanif hatte den Mann aus den Augenwinkeln gesehen, doch es war ihm egal. Sollten die Leute doch denken, was sie wollten! Carina bemerkte es nicht einmal. Sie brauchte einige Minuten, bis sie sich wieder voll im Griff hatte.
„Ich bin dir wirklich dankbar, dass du dich so um mich kümmerst“, sagte sie spontan und drückte seine Hand.
„Schon gut!“, beschwichtigte Hanif, „ich habe Rayan versprochen, dass ich mich um dich kümmern werde. Und wenn das bedeutet, dass ich dein Kummerkasten bin … warum nicht?“
Er lächelte schief, als Carina, wie zu erwarten war, mit ihrer Servierte nach ihm schlug. Sie lachte dabei und der Tiefpunkt schien vorüber. „Wieder einer“, dachte Hanif für sich. Grimmig fügte er hinzu: „Aber wir werden genau so weitermachen! Egal wie viele von diesen verzweifelten Momenten noch kommen. Wir lassen uns auf keinen Fall unterkriegen. Carina ist eine starke Frau, die kriegt das hin!“
Carina dagegen dachte über die Ankündigung nach, dass Leila bald kommen würde. Sie war der Meinung gewesen, ihre Eifersucht gegenüber der kleinen, quirligen Araberin aus Alessia endgültig überwunden zu haben. Doch nun erfüllte sie die Vorstellung, Hanif hätte dann keine Zeit mehr für sie, mit Schrecken. Erstaunt bemerkte sie, wie sehr sie sich in den vergangenen drei Wochen auf ihren neuen Begleiter eingestellt hatte. Er war der Erste, der sie am Morgen begrüßte und derjenige, der sie bis an ihre Tür begleitete, wo er stets eine Kontrollrunde durch das Zimmer drehte, bevor er ihr eine gute Nacht wünschte. Sie hatten überlegt, ob Carina nach den Ereignissen in ihrem Raum oben im ersten Stock nicht besser woanders nächtigen sollte, doch die Deutsche hatte energisch mit dem Kopf geschüttelt. „Ich lasse mich ganz bestimmt nicht in meinem eigenen Haus einschüchtern, das wäre ja noch schöner!“ und Hanif hatte wieder einmal ihre Hartnäckigkeit bewundert.
„Ich bin direkt hier vor der Tür“, hatte er ihr versichert, und hatte tatsächlich die ersten beiden Nächte dort verbracht. Alle Argumente Carinas waren vergeblich gewesen, und wenn sie ehrlich war, fand sie die ersten Stunden in dem Zimmer tatsächlich ein wenig gruselig.
Sie überlegte, woran es lag, dass sie sich auf einmal so auf Hanif fixiert hatte, doch das lag auf der Hand: Ihre anderen Freunde waren alle ebenfalls mit sich selbst und den äußeren Umständen beschäftigt.
Jassim war eigentlich nur noch drüben im Krankenhaus. Er war von der Tür seines Herrn nur wegzubekommen, wenn er sich zum Schlafen niederlegte, weil er vor Müdigkeit nicht mehr stehen konnte. Dem Leibwächter war überdeutlich bewusst geworden, wie verletzlich sein Herr war. Normalerweise war sein Instinkt nicht nur gut, sondern hervorragend ausgebildet und warnte ihn vor Gefahren. Und wenn er in eine Situation geriet, war er überwiegend durchaus in der Lage, klarzukommen. Doch nun lag er einfach so da herum! Jedes Kind könnte ihn in diesem Zustand ermorden. Der Gedanke trieb Jassim an den Rand des Wahnsinns und er legte Doppelschichten ein, um sicherzugehen, dass nichts passieren konnte. „So kann das nicht weitergehen“, ging es Carina durch den Kopf. „Sobald Tahsin hier ist, muss ich mit ihm darüber reden. Es hilft niemandem weiter, wenn Jassim vor Rayans Tür vor die Hunde geht“, sie seufzte.
Das brachte sie in der Aufzählung ihrer Freunde zu Tahsin: Der verfolgte seine inneren Dämonen auf der Jagd nach Sedat und seinen Schergen. „Noch einer der sich aufarbeitet, um die Spannungen abzubauen“, fügte Carina auf ihrer Liste hinzu: „Auch mit ihm sollte ich sprechen, dass er hier gebraucht wird und nicht da draußen.“
Als Nächstes dachte sie an Julie, doch die alte Dame und Carina hatten eine Vereinbarung getroffen, sich gegenseitig an Rayans Bett abzuwechseln. Beide hatten sich strikt geweigert, ihren Ehemann und Sohn auch nur eine Sekunde unbeobachtet zu lassen. Häufig schliefen sie sogar in einem extra dafür freigemachten Raum direkt neben Rayans Zimmer. Daher sahen sie sich zwar täglich, doch jeweils nur einige Minuten lang beim „Schichtwechsel“.
In diesem Moment kam Daoud ins Esszimmer, was Carinas gedankliche Liste komplettierte. Die kleine Sheila hing auf seinem Rücken, wie ein Affe an einem Baum.
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