Vorsichtig fragte ich nach:
„Weiß man denn ihren Namen?”
`Pling`
„Nein, die Polizei will ihn auf Rücksicht auf die Angehörigen nicht Preis geben, was ich mehr als verständlich finde. Über den genauen Hergang ist auch nicht viel bekannt. Man hat keinerlei Anhaltspunkte, wie die Frau dort hingekommen ist, aber man vermutet, es muss irgendwann in den frühen Morgenstunden passiert sein. Eine Spaziergängerin hat sie wenige Stunden nach ihrem Tod gefunden und sofort die Polizei alarmiert. Schrecklich, nicht wahr?”
Ich schüttelte den Kopf. Warum wollte mich der Gedanke an Becky nicht mehr loslassen? Ständig hatte ich ihr Gesicht vor Augen, wie sie mehr tot als lebendig in meinem Bett lag. Sofort recherchierte ich im Netz nach weiteren Informationen, doch dort fand ich auch nicht viel mehr Wissenswertes als das, was Ava mir schrieb. Bis auf ein weiteres, für mich nicht unwesentliches Merkmal: Das Opfer hatte hellblond gefärbte, schulterlange Locken.
Mein Körper zitterte erneut. Geistesabwesend drehte ich mich zu Maria um und wusste nicht, was ich denken sollte. Sie trug Beckys Schuhe, ohne dabei ein schlechtes Gewissen zu haben.
Als hätte sie meinen Blick bemerkt, erwiderte sie ihn mit geröteten Wangen. Ich zögerte nicht lange und ging auf sie zu. Hastig klickte sie mit ihrer Maus herum. Kaum hatte ich ihren Schreibtisch erreicht, legte sie die Hände auf den Schoß und blickte zu mir auf. „Was gibts?”, fragte sie mit aufgesetztem Lächeln. „Hast du das von der Frau gehört?”, stellte ich leise die Gegenfrage. Ich wollte nicht, dass irgendjemand dieses Gespräch mitbekam und womöglich noch falsche Schlüsse zog.
Maria legte die Stirn in Falten: „Welcher Frau?” Ich ging zu ihrem Rechner und öffnete ein neues Fenster mit der Nachricht über den Leichenfund. Sofort wurde Maria blass und ihr Mund stand offen. Fassungslos beugte sie sich nach vorn, las jede Zeile aufmerksam und ihre zittrige Hand bewegte sich allmählich in Richtung Gesicht. „Oh mein Gott!”, hauchte sie und sah mich schließlich mit weit aufgerissenen Augen an. „Meinst du, das ist sie?” Ich zuckte mit den Schultern. „Ich weiß es nicht, aber ich werde das Gefühl nicht los, dass ihr etwas Schreckliches passiert ist in der Nacht, in der sie abgehauen ist.” Dann verzog sich Marias Gesicht zu einer Fratze und sie streifte panisch die Schuhe von ihren Füßen und kreischte dabei laut auf. Ihr ganzer Körper begann zu zittern und sie schrie. Es gelang mir nur mühsam, sie festzuhalten und beruhigend auf sie einzureden, damit sie wenigstens aufhörte zu schreien.
Die anderen Büroangestellten ließen die Telefonhörer fallen und sprangen erschrocken auf um zu sehen, was mit Maria los war. Sofort kam Susi mir zu Hilfe und brachte Maria in den Kaffeeraum. Wir versorgten sie erst einmal mit kaltem Wasser und ich hatte Mühe, Susi schnell wieder aus dem Raum zu kriegen, um ungestört mit Maria über Becky reden zu können.
Maria war völlig apathisch und schnappte nach Luft. Ich dankte Susi für ihre Hilfe und drückte sie unsanft und mit wenig Geduld in Richtung Tür. Meine sonst so höfliche Art war weg. Jetzt gab es einfach Wichtigeres als auf meine Ausdrucksweise zu achten. Sie ging zum Chef und berichtete dort, dass Maria wohl gerade einen Schock erlitten habe.
Maria saß da und sah mich mit angsterfüllten Augen an. „Und wenn sie es doch war? Wenn Becky ermordet wurde und wir nur unsere Späße darüber machten, dass sie ohne ihre Schuhe abgehauen ist? Wir hätten ihr Verschwinden nicht so leichtfertig auf die Schulter nehmen und stattdessen nach ihr suchen sollen! „Das ist alles unsere Schuld!”, schluchzte Maria. Die ersten Tränen liefen ihr über das Gesicht. Ich streichelte ihr über die Locken und hielt ihre kalte Hand. Zugegeben, mir war auch schlecht bei dem Gedanken, Becky sei vor mir weg und geradewegs in ihren Tod gelaufen, doch Maria war mir in diesem Augenblick einfach wichtiger. Sie musste ruhig werden. „Becky war meine Freundin. Natürlich gab es auch hin und wieder Zoff, weil sie auf Eric stand, ihn aber nie bekam. Aber wenn sie jetzt wirklich tot ist … Nein, das glaube ich nicht.” Ich setzte mich neben Maria. „Ich kann mir auch nicht vorstellen, dass Becky die Tote ist. Das geht doch gar nicht. Wie soll sie denn dahin gekommen sein? Das ist doch völlig unlogisch.“ Ich hörte meine Worte, doch sie schienen nichts zu bewirken, weder bei ihr noch bei mir. Wir wussten beide, dass bloße Mutmaßungen und haltlose Erklärungen unser Gewissen keinesfalls beruhigen würden und alles, was wir in der Situation tun konnten war abzuwarten, welche Informationen die Polizei als nächstes öffentlich bekannt machen würde.
Was aber noch beunruhigender war als die Möglichkeit, dass Becky die Leiche sein könnte war die Vorstellung, wenn sie es wirklich gewesen ist, dann bin ich der Letzte gewesen, der sie lebend gesehen hat. Der Letzte, bei dem sie sich aufgehalten hat.
Noch bevor ich etwas darüber sagen konnte, kam unser Chef und orderte an, dass ich Maria umgehend nach Hause bringen solle. Ich holte die Schuhe aus dem Büroraum, legte sie in meine Tasche und stützte Maria, während wir zu meinem Auto gingen.
Und als hätte Maria meine Gedanken lesen können, schreckte sie plötzlich hoch. Ihre gläsernen Augen blickten mich ängstlich an. „Nach dir hat sie niemand mehr lebend gesehen!”, sagte sie erschrocken. Ich nickte. „Aber du kannst bezeugen, dass ich zur Tatzeit zu Hause war. Mal ganz abgesehen davon ist sie nicht tot. Bestimmt nicht.”, sagte ich und versuchte mich gleichzeitig selbst damit zu beruhigen. „Ich habe keinen Tropfen Alkohol getrunken in der Nacht. Und wir haben doch telefoniert an dem Tag.” Maria sah stur geradeaus und dachte nach. „Ja, das haben wir, aber erst gegen Mittag.” Das sollte wohl heißen, dass ich mehr als genug Zeit gehabt hätte, Becky erst zu Tode zu prügeln, um dann mittags bei Maria anzurufen und auf unschuldig und unwissend zu machen. Aber das war schwachsinnig. Das wusste auch Maria. Ich bin kein Mörder und ein so skrupelloser erst recht nicht! „Wir sagen einfach keinem, dass Becky noch mit dir um die Häuser gezogen ist. Immerhin habt ihr ja auch niemanden getroffen, den einer von euch kannte oder? Hat dich jemand dabei gesehen, wie du mit ihr ins Taxi gestiegen bist?” Ich überlegte kurz und schüttelte dann gewissenhaft den Kopf. Es war stockdunkel an der Ecke an der wir standen. Und das Taxi hatte sofort gehalten, wir mussten nicht lange auf eins warten. Aber was nützten jetzt all die Spekulationen? Wir wussten nicht, ob es Becky war, deren Schädel zertrümmert wurde. Warum also weiterhin verrückt machen deswegen? „Ich fahr dich jetzt erst mal nach Hause und du ruhst dich aus. Wenn du dich morgen noch nicht besser fühlst, geh zum Arzt und ruf mich an, wann immer du willst. Verstanden?” Maria nickte, ich fuhr los.
Die Fahrt dauerte nicht allzu lange, wenige Minuten und wir waren da, denn um diese Uhrzeit war der Verkehr stets gering. Ich fuhr auch extra eine andere Strecke als sonst, um nicht über die Brücke zu müssen wo man Becky fand, wenn es denn Becky war. Doch Maria und ich schwiegen uns an und blickten beide stur aus den Fenstern.
Als wir vor ihrer Wohnung hielten, fragte ich, ob ich noch mit rauf kommen solle. Aber Maria schüttelte den Kopf. „Nein”, sagte sie. „Aber du kannst mir die Schuhe geben. Ich nehme sie am Samstag mit, falls Becky wieder in der Bar auftaucht und danach fragt. Soll ich ihr sagen, dass sie bei dir war?” Ich verzog das Gesicht: „Nein, lieber nicht. Mir reicht die Tatsache, dass sie vor mir abgehauen ist, da brauche ich nicht noch Entschuldigungen von ihr als Wiedergutmachung. Das ist irgendwie noch demütigender, finde ich.” Maria sah mich verständnisvoll an und schloss die Autotür. Sie winkte mir noch einmal zu, bevor sie im Haus verschwand und ich fuhr zu meiner Wohnung. Immerhin hatten wir uns stumm darauf geeinigt davon überzeugt zu sein, dass Becky noch lebte und all die Aufregung völlig umsonst war. Das war schon mal ein Anfang.
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