An jenem Morgen jedoch machte es ganz den Anschein, als wolle sie mir aus dem Weg gehen. Sie grüßte jeden, strahlte über das ganze Gesicht und sorgte mit ihrer überschwänglichen Freude für so manchen überraschten Blick, doch als sie mich sah, erstarrte ihre Mimik plötzlich. Ich war mir anfangs nicht sicher, was nicht stimmte und obwohl ich eigentlich keinen Grund dazu hatte, verspürte ich ein starkes Schuldgefühl in mir aufsteigen.
Mit gesenktem Kopf ging Maria schließlich an mir vorbei und nuschelte nur ein unverständliches „Guten Morgen” vor sich her, zumindest glaube ich, dass es ´guten Morgen´ heißen sollte. Fast automatisch wanderte mein Blick ebenfalls auf den Boden. Sie trug Beckys Schuhe! Also war SIE es, die ein schlechtes Gewissen mit sich herum trug! Und zwar an ihren eigenen Füßen. Mit einem Mal verflog jede Schuld in mir und ich sah sie forsch an. „Warte mal!”, rief ich hinter Maria her, die mit schnellen Schritten die Flucht vor mir an ihren rettenden Schreibtisch versucht hatte. Nach meinem Ausruf drehte sie sich reumütig um und sah mich mit großen Kulleraugen an. „Was sind denn das für Schuhe?”, fragte ich und erschrak innerlich über meinen väterlich urteilenden Tonfall. Sie hielt die Hände hinter den Rücken und blickte herab. „Ja, ich weiß … Ich gebe sie ja wieder zurück. Ich habe es dir ja versprochen. Aber ich dachte, bis dahin könnte ich sie noch eine Weile tragen. Fällt doch keinem auf.”
Ich war überrascht, dass Maria es wirklich für nötig gehalten hatte, mir gegenüber Rechenschaft abzulegen. Immerhin war sie ehrlich und ihre kindliche Art amüsierte mich. Ich war schon drauf und dran zu sagen, dass ich Mama nichts davon sagen und nochmal ein Auge zudrücken würde, bevor ich ihr viel Spaß beim Spielen wünschte. Doch das war albern. Also schmunzelte ich darüber hinweg und sah Maria hinterher, die mit herunter hängenden Schultern an ihrem Schreibtisch verschwand.
Auch ich setzte mich vor den PC und schaltete ihn lustlos ein. Viel lieber würde ich jetzt zu Hause sitzen, gemütlich einen Tee trinken und in Ruhe auf Nachricht von Ava warten, die noch immer nichts von sich hören ließ. Der Computer fuhr hoch und ich runzelte die Stirn. Warum eigentlich nicht? Es war Montag. An diesem Tag war keiner im Büro sonderlich arbeitsam. Die meisten bearbeiteten lieber die Berge von Papierkram, die sie von Freitag bis zum Feierabend vor sich hergeschoben hatten. Mein Stapel war bereits abgearbeitet, warum also nicht hin und wieder einen Blick riskieren, ob Ava mir geschrieben hatte?
Ich sah mich um. Eigentlich durfte man sich während der Arbeit nicht auf anderen Webseiten herum treiben als auf denen, die der Arbeit dienlich waren. Aber in gewisser Weise wäre Ava genau dieser nützlich, denn sie würde mit ihren Nachrichten dafür sorgen, dass ich produktiver arbeiten könnte. Außerdem war ich bestimmt nicht der Einzige, der heimlich chattete.
Ich öffnete die Internetseite des Chatportals und sah nach, ob Ava sich bereits gemeldet hatte. Und als habe sie mein Vorhaben erahnt, ertönte im selben Moment wieder das verheißungsvolle ´Pling´. Ich las wie gebannt ihre Mitteilung, wenn sie auch nur kurz war. Sie schrieb von dem schönen Wochenende, das sie verbracht hatte und wie viel Spaß es ihr bereitete. Wo sie überall gewesen ist, schrieb sie, wem sie alles begegnet war und was sie wo erlebte. Es klang wirklich abenteuerlich und so mancher würde wohl vermuten, Ava würde die Wahrheit unermesslich schön reden und maßlos übertreiben. Doch das konnte ich mir nach all den Nachrichten, die wir uns bislang hin und her schrieben, nicht vorstellen. Sie war wirklich eine kleine Abenteurerin, die gern von alten Wegen abging, nur um zu sehen, was sich dahinter alles verbarg.
Ich prüfte, von wann ihre Nachricht stammte, weil ich nicht wollte, dass sie allzu lange auf eine Antwort meinerseits warten musste, aber dann war ich überrascht. Sie hatte die Mitteilung vor wenigen Minuten erst verfasst! Deshalb schrieb ich sofort zurück, weil ich davon ausgehen musste, dass sie auch gerade heimlich von der Arbeit aus schrieb. Auf die Frage hin, wie mein Wochenende war, antwortete ich lediglich kurz. Es gab ja auch nicht viel darüber zu berichten. Außerdem hatte ich ihr das meiste ja bereits ausführlich beschrieben. Dass direkt die erste Frau, die sich mit mir treffen wollte, ohne Schuhe bei Nacht und Nebel vor mir Reißaus genommen hatte, behielt ich lieber für mich. Ava sollte nicht denken, ich sei ein derartig abschreckendes Ungetüm. Aber ich konnte es einfach nicht für mich behalten und schrieb ihr auch dieses kleine Detail mit der beunruhigenden Gewissheit, sie würde sicherlich in tobendes Gelächter verfallen oder sich ernsthaft darüber Gedanken machen, was ich wohl für eine Art von Kerl sein musste.
Es dauerte nicht lange, bis Ava zurück schrieb. Wie erwartet, musste sie über meinen Bericht wohl unheimlich gelacht haben, zumindest textete sie, wie sehr ihr Bauch vor Lachen schmerze. Dann fragte sie, was ich denn getan hätte, um dieses arme Mädel derart in die Flucht zu schlagen, dass sie sogar ihre Schuhe liegen ließ.
Ich saß vor dem Bildschirm und zuckte fragend mit den Schultern, bevor ich wieder zu tippen begann. Ava erzählte ich von der Sauforgie meiner Begleiterin und dass sie wohl nachts panisch in einer fremden Wohnung – nämlich meiner – aufwachte, nicht wusste, wo sie war und dann einfach nur schnell weg wollte. Das hätte doch sicherlich jedem passieren können, nicht nur mir. Das hoffte ich zumindest.
Ava stimmte mir zu. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es sein musste, die Augen nach einer durchsoffenen Nacht zu öffnen und sich in einem Schlafzimmer wiederzufinden, das definitiv nicht das eigene war. Sie sagte, an Beckys Stelle hätte sie wohl kaum anders reagiert. Aus genau diesem Grund würde sie sich niemals so abfüllen, schrieb sie, was mich sehr erleichterte. Wenn es jemals zu einem Treffen zwischen uns kommen sollte, könnte ich sicher sein, dass sie nicht torkelnd neben mir her liefe, sondern ich das Date mit ihr nüchtern und in vollen Zügen genießen könne. Aber was dachte ich da! Ein Date mit Ava! So weit war ich noch gar nicht. So weit waren wir noch nicht. Wir kannten uns ja nicht einmal wirklich. Aber falls wir uns eines Tages treffen sollten, würde alles mit ihr vernünftig verlaufen. Was aber noch viel wichtiger war, es würde so ablaufen, dass sowohl sie als auch ich uns am nächsten Tag noch an das Date erinnern könnten und zwar gern .
Noch ehe ich weiter spinnen konnte, wie unser Zusammentreffen wohl von Statten gehen würde, erhielt ich ihre nächste Nachricht, die mir ein kalter Schauer bescherte.
´Pling`
„Hast du schon die Nachrichten gehört? Man hat eine junge Frau tot unter einer Brücke gefunden. Ist das nicht schrecklich?”
Ich zögerte. Dieses Thema passte so gar nicht in meinen Gedankengang und holte mich rasch in die Realität zurück. Langsam tippte ich, unsicher, ob ich die passenden Worte finden würde.
`Pling`
„Was für eine Brücke und wann hat man sie gefunden?”
Ava antwortete:
„Du willst mich wohl auf den Arm nehmen! Die Nachrichten sind voll davon! Man hat eine Frauenleiche an der Brohltalbrücke gefunden. Genau an der Brücke, über die du doch regelmäßig zur Arbeit fährst oder? Von dem oder den Tätern fehlt aber jede Spur und die Identität der Frau war bis vor Kurzem auch noch nicht bekannt, weil man ihr das Gesicht bis zur Unkenntlichkeit eingeschlagen hat. Was für Monster sind zu sowas im Stande?”
Ich schauderte. Der erste Name, der mir durch den Kopf schoss war Becky. Aber das war Unsinn. Nur weil sie vor mir weggelaufen war, oder nicht mal das. Sie war einfach so weggelaufen, das hatte mit mir rein gar nichts zu tun. Dennoch war das noch lange kein Grund, dass sie die Leiche war. Nein. Was wäre das für ein Zufall? Wie sollte Maria ihr dann die Schuhe am Wochenende wieder zurückgeben?
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