1 ...8 9 10 12 13 14 ...26 Ben klemmte sich den Hocker unter den Arm und humpelte so schnell es ging los, so lange, bis ihm Dickicht und Dämmerung Schutz boten. Auch wenn es die vier über den Zaun schaffen sollten, würden sie Mühe haben, ihn zu finden. Ben schöpfte Hoffnung. Er holte sein Handy aus der Jacke und drückte die Wahltaste.
Maus war nach dem ersten Freizeichen dran. „Mann, Alter. Wo steckst du? Viktoria wollte schon nach Hause, um eine Kerze für dich anzuzünden. Frag besser nicht, wen oder was sie damit beschwören will.“
„Halt die Klappe und hör zu!“, zischte Ben ein wenig zu scharf. Dann sagte er ihm, wo er ihn mit dem Auto abholen sollte.
„Jawohl! Liix hat zugeschlagen!“, jubelte Maus und streckte die rechte Faust in die Höhe. Mit der linken griff er zeitgleich in eine Tüte Currywurst-Chips.
Ben stöhnte und schlug sich die Hand auf die Stirn - und zwar nicht nur, weil ihm der Knöchel noch immer höllisch wehtat. Er saß auf einem speckigen, ausgefransten Sessel in der Zweizimmerwohnung von Maus. Sein Fuß lag auf einem Holzschemel, den Viktoria vorher mit zwei Kühlakkus „gepolstert“ hatte.
„Technisch gesehen war die Operation Rosswell ein voller Erfolg“, kicherte Viktoria. „Wir haben uns nach allen Regeln der Kunst in sein Notebook gehackt, die Mov-Datei ausgetauscht und zum richtigen Zeitpunkt gestartet. Und sogar die Videos, die ihr gedreht habt, sind ziemlich brauchbar.“
„Na also“, quittierte Maus mit vollem Mund. Currywurst-Chips-Brösel kullerten auf den braun-beige-gestreiften Teppich, der vor 30 Jahren einmal modern und damals vermutlich auch noch sauber gewesen war. „Alles hat doch astrein geklappt. Wie im Film, Alter. Liix hat zugeschlagen!“ Wieder reckte er die Faust nach oben.“
„Liix wäre beinahe gründlich vermöbelt worden“, entgegnete Ben mürrisch. „Zumindest der Teil von Liix, der so aussieht wie ich.“ Er wäre gerne laut geworden, fühlte sich dazu aber zu schwach. Und der Schreck saß ihm noch immer in den Knochen. Verdammt! Hätte sich Maus nur einen Ticken unauffälliger benommen, dann wäre es gar nicht so weit gekommen.
„Deine Flucht war aber irre, Ben“, murmelte Viktoria und rückte, ohne von ihrem Notebook aufzusehen, ihre altmodische Hornbrille zurecht. „Sieht gut aus, was du mit deiner Kamera aufgenommen hast. Macht sich bestimmt gut bei YouTube.“
„Viktoria, ich ...“ Ben brach den Satz mit einem Seufzen ab. Es hatte keinen Sinn. Die beiden würden den Ernst der Lage ohnehin nicht verstehen. Für sie war das Leben wie ein ausgedehntes und überaus realistisches Internet-Rollenspiel. Und Ben Hartzberg gehörte zum Team und spielte mit bis zum … Game Over. Und warum das alles? Auf diese Frage konnte sich Ben nicht einmal selbst eine vernünftige Antwort geben. Und falls es ihm doch eines Tages gelingen sollte, würde sie ihm sicher nicht gefallen.
Ben hatte die beiden vor zwei Jahren auf einer Games Convention in Freimann, im Münchner Norden, kennengelernt. Damals hatte er für 15 Cent pro Zeile Berichte aus den Stadtteilen für ein Anzeigenblatt geschrieben. Der Job war einer von vielen gescheiterten Versuchen, seiner verkorksten Existenz einen Sinn zu geben. Er führte natürlich zu nichts - außer zu Maus und Viktoria, die ihm an diesem Abend zugehört hatten. Geduldig, beinahe interessiert hatten sie sich von ihm die Geschichte seines absurden Absturzes aus der Welt der Besseren und Wichtigeren erzählen lassen und darüber gelacht. Sie hatten nicht etwa Verständnis geheuchelt, keine guten Tipps heraus gekramt. Sie hatten sich auch nicht betreten abgewandt. Maus und Viktoria hatten einfach nur gelacht. Ben war das damals reichlich seltsam vorgekommen. Erst hatte er sich geärgert, dann aber mitgelacht. Und es hatte ihm verdammt gut getan. Bis dahin war er im Selbstmitleid beinahe ersoffen. Jetzt konnte er seine Existenz endlich einmal als das sehen, was sie tatsächlich war: ein Witz.
An diesem Abend war Liix gegründet worden, eine Gruppe von Web-Aktivisten, die sich der Wahrheit verschrieben hatten und der Jagd auf all die, die aus der Unwahrheit Profit schlagen wollten. Der Name war die wenig originelle Abwandlung des englischen 'leaks'. Die große Ähnlichkeit zu 'Wikileaks' nahmen die drei dabei billigend in Kauf. Ihr größter Erfolg bisher war, einen selbstgerechten Stadtrat zum Rücktritt gezwungen zu haben. Der Mann war nicht müde geworden, soziale Ungerechtigkeiten zu finden und anzuprangern, wo nicht immer welche waren. Außerdem warf er der Münchner Geschäftswelt pauschal illegale Geschäftspraktiken vor. Maus tat sich ein bisschen in der Blogger-Szene um und fand heraus, dass er sich damit tatsächlich auskannte: Der Stadtrat hatte eine Vergangenheit als Schutzgeldeintreiber, wovon es sogar ein Video gab. Liix hatte zugeschlagen. Liix, die Gruppe, die allerdings auch nach zwei Jahren immer noch aus genau drei Aktivisten bestand.
„Keiner wird das Video sehen wollen. Zöllner hat zu schnell und zu gut reagiert. Und die Leute im Saal kaufen ihm sowieso alles ab, was er sagt.“ Ben versuchte noch einmal, die Euphorie der beiden in vernünftige Bahnen zu lenken.
Maus, der in seiner lange zurückliegenden bürgerlichen Existenz einmal auf den Namen Sven Werrn gehört hatte, erhob sich schwerfällig und ließ dabei die leere Chipstüte zu Boden gleiten. Mit einer für seine Verhältnisse schnellen Bewegung nahm er Viktoria das Notebook ab und hielt es Ben vor die Nase. Auf dem Display war Zöllner zu sehen - und zwar in dem Moment, in dem hinter ihm das Raumschiff explodierte. Er zuckte heftig zusammen. Sein Blick zeigte Hilflosigkeit, Verwirrung und Entsetzten. Fast hätte er einem leidtun können.
„Alter. Warum, glaubst du, hab ich darin den Clown gegeben? Der Kerl hat mir direkt in die Kamera gesehen. Besser geht es nicht!“, sagte Maus und betonte den letzten Satz überdeutlich. „Scheißegal, was danach passiert ist. Das hier reicht völlig. Der schwitzt vor Angst. Er hat Panik. Das ist keiner, dem man sein Geld geben will. Das ist ein supergeiles Video - egal, was du sagst. Mach dich mal wieder locker, Mann! Liix hat zugeschlagen!“
Ben rieb sich die Augen. Er musste sich eingestehen, dass Maus nicht so ganz daneben lag. Vielleicht war die Aktion ja doch nicht umsonst gewesen. Vielleicht war aus den Videos doch etwas ganz Brauchbares zu machen. Ben wusste, dass Viktoria das hinbekommen würde. Wenn nicht sie, wer sonst?
Viktoria war der kreative Teil von Liix und außerdem die Freundin von Maus.
Ben fand das bemerkenswert, denn optisch passte sie überhaupt nicht zu ihm. Viktoria war recht klein, hatte aber eine sportliche Figur und ein überaus hübsches Gesicht. Würde sie nicht diese hässliche Brille tragen und ihre blonden Haare mit bunten Klammern zu einem undefinierbaren Etwas drapieren, sie wäre ein Hingucker auf jeder Party. Allerdings wusste Ben, dass sich Viktoria nichts aus Partys machte und in ihrem Leben wohl auch noch nicht auf allzu viele eingeladen worden war. Nicht deshalb, weil sie meistens in sich gekehrt vor sich hin schwieg. Es waren wohl eher die Momente, in denen sie gerade nicht schwieg. Viktoria war berüchtigt für unpassende Kommentare und entlarvende, spitzfindige Bemerkungen, die sie gerne ohne jegliche Vorwarnung abfeuerte. Wen es traf, war ihr dabei völlig egal. Aber sie saßen immer. Ben hatte das oft genug am eigenen Leib erfahren. Und er kannte die Geschichten, die ihm Maus über sie erzählt hatte.
„Aber ich hatte doch recht!“, protestierte sie gerne leise, wenn ihr Maus einmal mehr einen versauten Abend zum Vorwurf machte, sie danach aber gleich wieder tröstend in den Arm nahm. Viktoria war merkwürdig, wie eigentlich alle bei Liix. Und sie hatte ein paar außergewöhnliche Fähigkeiten. Kaum jemand konnte so verdammt gut mit Videos und Computern umgehen wie sie.
Es war Zeit, sie arbeiten zu lassen.
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