1 ...7 8 9 11 12 13 ...26 Noch drei Sitze.
Ben musste etwas tun. Er sprang auf und schrie: „Will denn niemand diesen schleimigen Lügner von der Bühne werfen! Ich muss gleich kotzen!“
Kein guter Plan. Aber der einzige, der ihm auf die Schnelle eingefallen war. Hunderte Augen sahen ihn an - die meisten voller Hass, Abscheu, Entsetzen. Nur in den Augen der vier Schläger stand finstere Entschlossenheit. Maus war unwichtig geworden. Sie hatten ein neues Ziel.
Und Ben hatte keine Zeit mehr zu verlieren. Schneller, als er es für möglich gehalten hatte, erreichte er den Ausgang des Saals. Dort stellte sich ihm ein mutiger Ochdoi-Zombie mit Zopf und einem lächerlichen Schnurrbart unter der Nase in den Weg. Ben drückte ihm die Knöchel seiner rechten Hand in den Solarplexus und versetzte ihm mit der flachen, linken einen heftigen Stoß. Der Zombie stöhnte und stürzte. Ohne sich umzusehen, rannte Ben weiter. Er war jetzt in der Eingangshalle des Zentrums. Zu seiner Erleichterung war sie leer. Und die Doppelglastür nach draußen war auch nicht verschlossen. Gut! Ben hörte schweres Keuchen hinter sich, bevor er ins Freie stürzte und in die klare, kühle Abendluft eintauchte.
Die vierspurige Straße vor ihm war leer - erstaunlich, um diese Zeit. Er rannte auf die Fahrbahn. Erst jetzt wurde ihm klar, warum das so problemlos ging. Links von ihm in etwa 50 Metern Entfernung nahm er eine stillstehende Wand aus Autos wahr - alle befüllt mit ungeduldigen Menschen, deren Gedanken sich im Wesentlichen um die baldige Heimkehr nach einem anstrengenden Arbeitstag drehten. Eines der Hindernisse auf ihrem Weg schaltete gerade von Rot auf Gelb um. Motoren heulten auf. Ben rannte noch schneller. Ein schwarzer Peugeot hupte vorsorglich, auch wenn er noch gar nicht in Schlagdistanz war. Ben sprang über den schmalen Mittelstreifen, der von der Fahrbahn durch Bordsteine abgesetzt war. Der Blechlawine entkam er damit gerade so. Was jetzt aber kam, erinnerte ihn vage an ein Computerspiel aus den 80er Jahren, in dem man einen Frosch heil über eine Straße bringen musste. Der Außenspiegel eines Kleinlasters touchierte unsanft seine Schulter - begleitet von einem tiefen empörten Hupton. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in seinem Oberarm aus. Im gleichen Moment schlitterten zwei gebremste Reifen schrill quietschend über den Asphalt. Der Peugeot kam nur Zentimeter vor ihm zum Stehen. Ben ignorierte die wüsten Beschimpfungen des Fahrers und erreichte mit einem letzten großen Schritt den sicheren Gehsteig. „Ja also, geht's noch?“, empörte sich dort eine mit Einkaufstüten beladene Frau.
Erst jetzt nahm sich Ben die Zeit, nach seinen Verfolgern zu sehen. Die gute Nachricht war: Keiner von ihnen hatte sich auf die Straße gewagt. Die schlechte: Die vier Schläger hatten trotzdem nicht vor, ihn ziehen zu lassen. Einer starrte ihn hasserfüllt an, die anderen scannten mit nervös hin- und herwandernden Pupillen nach einer Lücke im steten Fluss der blechernen Feierabend-Heimkehrer.
Ben hatte nicht vor, die nächste Rot-Phase abzuwarten. Er rannte weiter. Nach zwei Blöcken bog er rechts in eine deutlich schmalere Straße, die in erster Linie zum Tiefgarageneingang eines Vier-Sterne-Stadthotels führte. Ben spielte mit dem Gedanken, sich in der Garage zu verstecken. Aber nein. Sollten die vier nicht darauf hereinfallen, saß er dort möglicherweise in der Falle. Und weit und breit war niemand, der ihm gegen die vier überirdisch motivierten Schläger hätte helfen können. Ben hatte es in Karate zwar vor Jahren bis zum grünen Gürtel gebracht. Bisher hatte er aber noch nie Gelegenheit gehabt auszuprobieren, ob er deshalb ähnlich unbesiegbar war wie die Helden im Fernsehen. Wohl eher nicht, sagte ihm der weniger draufgängerische Teil seines Verstandes. Er ließ die Garageneinfahrt links liegen und lief stattdessen weiter geradeaus die Straße entlang. Ohne echtes Ziel und ohne allzu große Hoffnung, Zöllners Schlägern zu entkommen. Denn allmählich ging ihm die Puste aus. Verdammt. Er war keine 25 mehr. Dazu kam, dass sich mit jedem Schritt seine Knöchel-Verletzung am linken Fuß zurückmeldete. Vor acht Jahren hatte Ben auf dem Weg in die U-Bahn eine Treppenstufe übersehen und war derart unglücklich umgeknickt, dass zwei Sehnen gerissen waren. Auch zwei Operationen später war es nicht mehr so wie vorher. Ben hatte immer wieder Schmerzen, sobald er den Fuß über einen Spaziergang hinaus belastete. Andere verletzten sich wenigstens beim Sport, auf schwarzen Pisten oder beim Zweikampf mit dem gegnerischen Stürmer. Ben passierte es beim Herabsteigen einer Treppe. Wie banal! Wie typisch für sein Leben!
Nicht darüber nachdenken, Ben! Er erlaubte sich einen Moment lang, das Tempo zurückzunehmen und über die Schulter zu schauen. Die vier Schläger bogen gerade in die Straße ein - ohne zu zögern und ohne Anzeichen von Erschöpfung. Das waren nicht irgendwelche Jungs aus dem Pool der Ochdoi-Zombies. Die Kerle wussten, was sie taten. Ben fragte sich, ob die vier überhaupt an Zöllners Außerirdischen-Kram glaubten, oder vielleicht auch nur an das Geld, dass er ihnen zahlte.
So oder so: Ben brauchte einen Plan B, wenn er aus der Sache heil herauskommen wollte. Denk nach! Ein bestimmt zweieinhalb Meter hoher Holzzaun trennte eine kleine Parkanlage von der Straße ab. Ben erinnerte sich. Bis vor Kurzem hatten Junkies die Anlage nach Einbruch der Dunkelheit für ihre Flucht aus der Realität genutzt. Mit der Folge, dass in Büschen und im Sand des kleinen Spielplatzes immer mal wieder alte Spritzen gefunden wurden. Die Münchner Ordnungsbehörden ließen die Anlage daraufhin umzäunen und jeden Abend absperren. Auch jetzt war sie verschlossen.
Ben hatte eine Idee. Es war eigentlich mehr ein Szenario, das sich in seinen Adrenalin-durchfluteten Gehirnwindungen manifestierte und diesmal den vernünftigen Teil völlig unterdrückte. Aber für Zweifel war es jetzt ohnehin zu spät. Ben öffnete die Schnalle seines Gürtels und zog ihn aus den Schlaufen. Mit der Linken griff er sich im Vorbeirennen einen gelben, schmutzigen Plastikhocker. Er stand unter der Ladefläche eines Kleinlasters und war dort nach dem Ausladen vergessen worden - oder aber niemand rechnete ernsthaft damit, dass er gestohlen werden könnte. Für Ben war er genau zur richtigen Zeit an der richtigen Stelle. Er stellte den Hocker dicht an den Zaun heran und ging in die Knie. Im Augenwinkel sah er die vier Schläger, die sich ihm gefährlich schnell näherten. Von unten zog Ben den Gürtel durch ein in die Trittfläche gestanztes Loch unterhalb des Plastikgriffes - so lange, bis sich die Schnalle dort fest verhakte. Sehr gut! Jetzt sprang Ben auf den Hocker und band sich das andere Ende des Gürtels um den linken Fuß. Er kam nun mühelos mit den Händen an die Oberseite des Zaunes. Ben packte zu und zog sich stöhnend hoch. Spreißel und Kanten schnitten in seine Finger. Trotzdem gelang es ihm, das rechte Bein über den Zaun zu bringen. Keuchen, Schritte, drangen an sein Ohr. Er hatte keine Zeit mehr. Ben kam sich wie ein Stück Wäsche vor, das jemand zum Trocknen über den Zaun geworfen hatte. Alle möglichen Stellen seines Körpers taten ihm weh, aber immerhin lag er stabil. Stabil genug, um das andere Bein mitsamt dem Hocker nach oben zu ziehen. Er packte ihn und warf ihn auf die andere Seite des Zauns. Keine Sekunde zu früh, denn im nächsten Moment griffen kräftige Hände nach ihm. Sie griffen ins Leere, denn Ben kippte bereits dem Hocker hinterher.
Er landete mit viel Glück auf beiden Beinen. Trotzdem war der stechende Schmerz, der dabei durch seinen angeschlagenen Fuß fuhr, betäubend. Zorn wallte in ihm auf. Verdammt! Was sollte das alles? Warum ließen ihn diese Dumpfbacken nicht einfach in Ruhe? Zu gerne hätte Ben die vier nach allen Regeln der Karate-Kunst vermöbelt. Einfach so. Wie die Helden im Fernsehen. Kein guter Gedanke, denn in der Realität nahmen solche Versuche leider kein schönes Ende. Und außerdem: Der Trick mit dem Hocker war doch auch nicht schlecht, wenn er es sich recht überlegte. Immerhin hatte er seine Verfolger abgehängt. Jedenfalls bis auf Weiteres.
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