»Sie können ruhig sagen, dass sie beeindruckt sind. Der Kerl ist ganz schön groß«, sagte Michael frech, der die Reaktion der Frau nicht wirklich zu deuten vermochte.
»Es kommt nicht immer auf die Größe an, das müssten sie doch wissen Mr. Zain«, konterte die Frau kühl. Michael mochte sie gleich, auch wenn er nicht wusste, welche Disziplin sie ihm diesmal abverlangen würde. »Die Verführung wird es wohl nicht sein«, sagte Michael zu sich selbst und seine Mundwinkel zuckten kaum sichtbar. »Wenn sie dann fertig sind, folgen sie mir. Ich könnte mir vorstellen, das wird ihnen Spaß machen, was als nächstes auf dem Programm steht.«
»Todsicher«, sagte Michael und folgte der dunkelhaarigen Frau, die eine körperbetonte, schwarze Anzughose und einen dazu passenden Blaiser trug, über den Gang bis zu den Aufzügen. Ohne ein weiteres Wort zu sprechen, fuhren sie drei Etagen tiefer und mussten nun beinahe ebenerdig mit dem Grund der Themse sein. Was er beim Betreten des Areals, das sich hinter den Aufzugstüren befand, sah, zauberte Michael tatsächlich ein Lächeln ins Gesicht. Das MI6 hatte hier unten einen eigenen Schießstand errichtet, so wie er sie, allerdings obererdig, von den Trainingsplätzen seiner Einheit kannte. Wobei die Bezeichnung nur unzureichend beschrieb, was er hier vor sich sah. Es war wie ein Spielplatz für Erwachsene. Zwar auf einer professionellen Ebene, aber es sah nach Spaß aus. Der Fahrstuhl endete auf einem Gerüst, auf dem ein kleiner, zweckmäßiger Beobachtungsraum errichtet war. Von dieser Position aus hatte man einen idealen Überblick auf den Parcours, der von hier oben aussah, wie das Testlabyrinth für Mäuse in einem Labor.
Das Team um die Quartiermeisterin Elisabeth Doloris Quelham hatte hier einen Parcours mit unzähligen Zielen, Hindernissen und Möglichkeiten aufgebaut, um die Fähigkeiten der Probanden in verschiedenen Waffenklassen und Schießpositionen zu testen. Sie ging mit ihm die Treppe herunter, sodass er nun direkt vor dem Eingang des Schussbereichs stand.
»Sie haben zwei Minuten pro Durchlauf. Ich will, dass sie den Parcours zweimal bewältigen. Freie Wahl der Waffen. Zeigen sie uns, was sie können«, erklärte Quelham und nickte mit ihrem Kopf auf eine Tür mit einem Sicherheitsschloss. Michael legte seinen Finger auf den Scanner. Nach wenigen Sekunden gab ein lautes Piepen das Signal, dass seine Identität bestätigte und die Tür zur Waffenkammer schwang auf. Als er den Raum betrat, bemerkte Michael, dass es eine Ewigkeit her war, dass seine Hände kalten Stahl berührten. Er schritt die Wände des Raums ab, an denen Waffenhalterung befestigt waren, deren Inhalt keine Wünsche offenließ. Von Pistolen verschiedenen Kalibers über halbautomatische und vollautomatische Gewehre bis hin zu Schrotflinten und Scharfschützengewehren fand er hier alles vor, was das Herz begehrte. So sehr sein Gedächtnis, bezogen auf den Mord an seiner Familie, gelitten hatte, so sehr erinnerte er sich an die Waffen, denen er in der Vergangenheit am meisten vertraut hatte. Zwar hatte er nur selten tatsächlich die Wahl, da er meist mit dem Arbeiten musste, was ihm vor Ort zur Verfügung stand. Aber wenn man schon mal in den Genuss eines solchen Arsenals kam, würde er gerne selbst wählen. Seine Finger glitten über die Läufe einiger Sturmgewehre und blieben auf dem Belgischen SCAR-L liegen. An die Zuverlässigkeit dieses Gewehrs auch in den stürmischen Sandgebieten des mittleren Ostens konnte er sich noch gut erinnern und er griff beherzt zu.
Vor dem Regal mit den Handfeuerwaffen musste er nicht lange überlegen. Seine bevorzugte Pistole war schon immer die Walther P22. Sie war recht kompakt, nicht größer als seine Hand und begleitete ihn stets zuverlässig durch viele seiner Einsätze. Er legte die beiden Waffen auf den Tisch in der Mitte des Raums, ging zu den Munitionslagern, die neben dem jeweiligen Waffenregal angebracht waren und lud jeweils zwei Magazine mit den .22er lfB-Patronen für seine Walther und den 5,56mm-Patronen für das Sturmgewehr. 10 Schuss pro Magazin für die Pistole und 30 Schuss pro Runde für das Sturmgewehr sollten mehr als genug sein, um die Aufgabe der Quartiermeisterin zu bestehen. Nachdem er beide Waffen geladen und gesichert hatte, ging er zurück zu Dos Quintos die nun, da es um ihre Leidenschaft ging, doch etwas aufgetaut war. Neugierig sah sie sich die Wahl des Agenten an, den sie gleich auf die Probe stellen würde. Ohne Zains Waffen zu kommentieren nickte sie nur, führte ihn zum Start und ließ ihn dann mit dem Hinweis alleine zurück, dass es auf ihr Signal hin losgehen würde.
Michael stand in dem künstlich angelegten Gang, der dunkel vor ihm lag. Gleich würde sie das Signal geben und das Licht würde über ihm aufleuchten. Dann offenbarten sich die Ziele von allen Seiten und er würde versuchen, so viele so tödlich wie möglich zu treffen, während er den Parcours durchlief. Er atmete ruhig, zog den Schlitten der Pistole zurück, um die erste Patrone in die Kammer zu laden und entsicherte den Sicherungsbolzen. Dann steckte er die Waffe zurück in das Holster an seiner Hüfte und lud das Gewehr, indem er den Ladehebel auf dem Lauf nach hinten zog. Mit seinem rechten Daumen entsicherte er das Gewehr und stellte den Feuermodus auf Einzelschuss.
Er war gerade fertig, als er den Countdown auf der Uhr über dem Parcourseingang runterlaufen sah. Er spannte seine Muskeln an, konzentrierte sich und versuchte so gut es ging, seinen Instinkten das Feld zu überlassen. »Du hast das hundertmal gemacht. Du kannst das!«, sagte er zu sich selbst und stürmte mit dem Klang der Sirene los. In den ersten zwei Minuten legte Michael ein Tempo vor, dass Quelham ernsthaft überraschte. Der Agent hatte das optimale Tempo gewählt, um schnell voranzukommen, gleichzeitig aber so viel Atem übrig zu lassen, um die Ziele präzise unter Feuer nehmen zu können.
Als er aus dem Fahrtstuhl getreten war, hatte Michael bereits die Zielpositionen des Parcours ausgemacht. So wusste er zum einen, von wo die Zielscheiben und Pappkameraden auftauchen würden. Zudem hatte er danach seine Waffen ausgewählt, da er wusste, dass er maximal 20 Ziele pro Durchgang treffen musste. Er versetzte jeder der Gegnerattrappen, die aus einer menschlichen Silhouette bestanden, auf die eine Zielscheibe aufgezeichnet war, zwei Körpertreffer. Wie er es gelernt hatte, um Feinde effektiv auszuschalten, ging eine Kugel in die Brust und eine in den Kopf. Nach den ersten 15 Zielen ließ er das leergeschossene Gewehr an dem daran befestigten Riemen auf seinen Rücken rutschen und zog seine Pistole. Auch die letzten fünf Ziele wurden auf diese Weise beschossen. Nachdem er den Parcours beendet hatte, drückte er auf den Knopf am Ausgang und wollte kurz verschnaufen.
»Was machen sie denn? Weiter!«, rief die Quartiermeisterin von ihrem Sitz oben auf dem Gerüst. Michael rannte los. Er musste einmal um das künstlich angelegte Konstrukt herumlaufen, um wieder an den Start zu gelangen. Im Laufschritt griff er an seinen Gürtel, wo er an zwei Munitionsclips die Ersatzmagazine befestigt hatte und ersetze zunächst das halbvolle Pistolenmagazin durch ein neues und steckte schließlich auch ein frisches Magazin in das Gewehr, kurz bevor er den Start erreichte. Ohne abzustoppen sprintete er erneut in den Parcours. Anders als beim ersten Mal, kamen die Ziele aber von anderen Seiten. Quelham hatte von ihrem Kontrollpult aus die Frequenz und Reihenfolge geändert, sodass sich Michael in Sekundenbruchteilen neu orientieren musste. Aber obwohl er mit sich und seiner Kondition kämpfen musste, bestand er auch diese zweite Runde unter den erschwerten Bedingungen mit Bravour.
Außer Atem erreichte er auch diesmal den Ausgang, betätigte das Signal und konnte mit sich selbst im Reinen sein. Er hatte alles gegeben und dabei nicht die schlechteste Figur gemacht. Nachdem er seine Waffen gesichert und einem Mitarbeiter der Quartiermeisterin übergeben hatte, der diese reinigen und warten würde, ging er nach oben und sah sich mit Quelhamdie Ergebnisse des Tests an. Diese waren beachtlich. Sie rief die digitale Akte des Agenten auf und verglich die Zeiten und Treffsicherheit eines vergleichbaren Tests beim SAS vor einigen Jahren mit dem heutigen.
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