Ergänzend packt er sich einen Trolley mit normaler Bekleidung. Falls er sich einfach nur im Tal aufhalten muss, möchte er nicht permanent in Wanderkleidung herumlaufen. Auch dies ist in wenigen Minuten erledigt. Damit sind seine Vorbereitungen abgeschlossen. Angesichts der Umstände ist ihm klar, dass es keine gewöhnliche Tour wird, die vor ihm liegt. Welche Überraschungen sie für ihn bereithält, davon ahnt er nichts.
3 Mittwoch
3.1 Teambesprechung
Am Morgen trifft sich das Polizeiteam im Besprechungsraum. Neben Julia Lensing sitzt Alexander Stenzel am Tisch mit Blick auf die langen schmalen Fenster. Gegenüber haben ihre Kollegen Raja Becker und Manfred Schneider Platz genommen. Alle schauen schweigend in ihre Unterlagen und Notizen, als Werner Strunz, Chef der Abteilung, den Raum betritt. Mit seinen Mitte 50 ist er ansatzweise korpulent sowie weißhaarig, hat dennoch eine sportliche Statur und immer ein seichtes, geradezu väterliches Lächeln um die Lippen. Er setzt sich auf den Drehstuhl am Kopfende und platziert vor sich eine Mappe mit seinen Unterlagen.
„Guten Morgen zusammen!“
Alle murmeln einen freundlichen Gruß zurück, jedoch nicht so entschlossen in der Stimmlage.
„Wie sieht es im Fall Kevin Schulte aus?“ Er blickt nach links. „Julia, fängst Du an?“
„Tut mir leid, ich habe nicht viel, was wir gebrauchen können. Mit Alex war ich gestern in der Wohnung. Da hat sich nichts Nützliches ergeben. Anschließend bin ich zu seinem Betrieb, einer Software-Firma, gefahren. Dort kennt man ihn als freundlichen und kompetenten Kollegen. Auffälligkeiten habe es nicht gegeben, alles sei friedlich gewesen. Einzig, dass er sich in den letzten Tagen kurzfristig ein paar Tage Urlaub genommen habe. Ziel unbekannt. So gut kenne man sich nicht, Sorgen habe sich keiner gemacht. Nun herrscht allgemeine Bestürzung. Motivlagen – inner- oder außerbetrieblich – sind für mich derzeit nicht erkennbar. Das war es.“
Kunz nickt, dann schaut er zu dem neben ihr sitzenden Alexander Stenzel. „Nach der Besichtigung der Wohnung habe ich mich bei den Nachbarn umgehört. Ähnliches Bild: Er sei ein netter Mann, höflich, kümmere sich um seine Aufgaben im Haus, Probleme habe es keine gegeben. Es sei hin und wieder laute Musik zu hören gewesen, aber kein Grund zur Beschwerde, das komme in einem Mehrfamilienhaus vor. So äußerte sich unter anderem eine Mutter von zwei Kleinkindern aus dem Erdgeschoss, über deren Lärm er sich seinerseits auch nie beschwert habe. In den letzten Tagen sei er nicht zu Hause gewesen. Wo er war, weiß keiner. Alles Weitere war unterhaltsam, wie der Nachbar, der sich mit mir über den Durchgangsverkehr auf der Straße unterhalten wollte, aber wertlos.“
Weiter geht es mit Manfred Schneider, der Alexander Stenzel gegenüber sitzt. Der rückt seine Brille zurecht und wirkt wie immer leicht verkrampft. Er selbst nennt es konzentriert, wenn man ihn auf seine unentspannte Körperhaltung anspricht. Julia hat den Eindruck, seine Schultern ziehen sich noch höher, bis auf Höhe seiner Ohren, und lassen seinen Hals verschwinden. Als einziger in der Runde hat er ein Tablet vor sich liegen.
„Die Liste der angenommenen Anrufe, die auf dem Smartphone gelöscht waren, habe ich beim Netzbetreiber abgefragt. Aus den letzten fünf Tagen gibt es keinen Telefonverkehr zu verzeichnen. In der Zeit davor waren es überwiegend Kollegen aus seinem Betrieb sowie ein Online-Shop. Verwandte oder Freunde waren nicht dabei, diesbezüglich erläutert gleich Raja mehr. Die kriminaltechnische Untersuchung hat mir Zugang zu seinem Computer verschafft. Viele Daten und Dateien. Bei seinem Beruf und Hobby nicht überraschend. Übrigens alles schön aufgeräumt. Ergebnis: Verbotenes oder Fragwürdiges habe ich nicht entdeckt. Dies schließt nicht aus, dass es etwas gibt. Mit seinen Kenntnissen wusste er bestimmt, wie man etwas ablegt, was nicht gefunden werden soll. Aber dafür gibt es derzeit keine konkreten Anhaltspunkte.“
Nun ist Raja Becker, mit der Julia das Büro teilt, an der Reihe, die neben Manfred Schneider sitzt. Mit Ende 20 ist sie die Jüngste im Team. Sie hat die Angewohnheit, immer mit schickem, heute dunkelblauem Hosenanzug, eleganter, heute weißer Seidenbluse sowie Pumps zum Dienst zu erscheinen. Auf ihre Schultern fällt ihr dunkelbraunes, lockiges Haar. Alles wirkt authentisch und trotz des förmlichen Outfits wesentlich entspannter als bei Manfred Schneider.
„Kevin Schulte scheint keine Familie zu haben. Eine Frau oder Kinder hat er nicht. Eltern sind verstorben, sie Deutsche, er Brite, die nicht verheiratet waren. Geschwister sind ebenfalls nicht vorhanden. Wie es mit Onkeln und Tanten aussieht, weiß ich noch nicht. Es ergeben sich keine Hinweise auf Kontakte, wie Manfred bereits beschrieben hat.“
Werner Kunz lehnt sich in seinem Stuhl zurück. „Ich fasse zusammen: Entscheidendes liegt uns leider nicht vor. Die bisherigen Untersuchungen haben keine Besonderheiten ergeben. Im Grunde haben wir keine Ahnung, was sich in der Wohnung von Kevin Schulte gestern abgespielt hat. Dieser ist polizeilich bisher nicht in Erscheinung getreten. Soweit ich das sehe, nicht einmal mit einer Geschwindigkeitsüberschreitung. Laut aktuellem Ergebnis der pathologischen Untersuchung ist von einer Vergiftung mittels oraler Einnahme auszugehen, also einer Kapsel oder Ähnlichem. Weitere Verletzungsspuren sind – wie nach dem ersten äußeren Anschein nach – nicht gefunden worden. Es ist anzunehmen, dass nicht mehr und nicht weniger als die Vergiftung die Todesursache ist. Eure Vorschläge zum Ablauf des Geschehens?“
Alexander Stenzel meldet sich zu Wort. „Bezüglich der Todesursache gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder man hat ihn gezwungen, die Kapsel zu nehmen. Das macht wenig Sinn, denn das wäre eine umständliche Methode, jemanden umzubringen. Und ein Selbstmord lässt sich auf die vorgefundene Weise nicht vortäuschen. Es könnte aber ein echter Selbstmord gewesen sein. Die andere Möglichkeit ist nämlich, dass er die Kapsel bereits im Mund hatte. Das hieße, er müsste konkret erwartet und in Erwägung gezogen haben, dass er überfallen wird. Und dass er sich nur durch einen Selbstmord zum Beispiel einer möglichen Folter entziehen kann. Dies wiederum setzt voraus, dass er Informationen hatte, die er nicht preisgeben wollte und die für andere immens wichtig zu sein scheinen. Er hatte es nicht in Erwägung gezogen, die Polizei hinzuzuziehen. Also könnten es Informationen sein, von denen wir nichts wissen sollen.“
Strunz beugt sich vor. „Unser Kevin Schulte hatte Urlaub. Keiner weiß, was er in dieser Zeit unternommen hat. Anscheinend war er unterwegs. Nun ist etwas Sonderbares passiert. Über unsere zentrale Poststelle ist gestern Abend um exakt 20:00 Uhr eine E-Mail hereingekommen, die von ihm abgesendet wurde. Ihr habt richtig gehört: gestern Abend. Ich habe sie kurz überflogen. Lest Euch das bitte durch.“
Strunz verteilt an alle seine vier Kolleginnen und Kollegen jeweils einen Ausdruck der E-Mail.
Sehr geehrte Damen und Herren,
Sie erhalten diese automatisch versendete E-Mail, weil ich seit mindestens 12 Stunden nicht mehr im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte oder auf andere Weise nicht mehr handlungsfähig bin. Vielleicht ist es ein Unfall. Vielleicht etwas Anderes. Zuvor habe ich einen wertvollen Schatz versteckt. Da ich ihn nicht mehr schützen kann, wende ich mich an Sie.
Ich kann ihn zum jetzigen Zeitpunkt nicht genauer benennen. Falls ich in nächster Zeit meine Handlungsfähigkeit zurückerlange, möchte ich Sie davon abhalten, an meinen Schatz zu kommen. Der Erklärungsbedarf für diese E-Mail wird dann ein anderes Problem sein.
Schritt für Schritt bringe ich Sie dem Schatz näher – und der Lösung für meinen derzeitigen Zustand.
Читать дальше