Offensichtlich gab es nur zwei Dinge, die ihr die Leute vom Heim mitgegeben hatten, als sie vor drei Monaten in die Notaufnahme kam, weil sie beim Spielen von einem Baum gefallen war: einen alten, verfilzten Teddybär, an dem sie sich krampfhaft festhielt, und ein Foto, das auf dem Nachttisch lag und spielende Kinder zeigte. Rene nahm es in die Hand und versuchte sie darauf auszumachen. Ihren Namen las er auf einem Klebestreifen am Fußende ihres Bettes: ‚Saskia‘.
„Hey, Saskia! Ich bin der Rene. Ich bin hier, um dir zu helfen wieder gesund zu werden.“
Saskia starrte immer noch die Decke an, als würde sie ihn nicht wahrnehmen. Dass dies nicht der Fall war, wusste er nur zu gut. ‚Na klasse!‘, dachte er bei sich. ‚Meine ersten Worte waren bereits eine Lüge und die Kleine ahnt es bestimmt.‘
Das traurige Schicksal der Kleinen bewegte Rene und er war fest entschlossen ihr die letzten Tage so leicht wie möglich zu machen. Doch dafür müsste es ihm gelingen das Eis zu brechen.
Intensiv betrachtete er das Bild in seiner Hand.
„Wer sind die Kinder auf dem Bild hier? Deine Freunde?“
„Egal!“ Die Antwort kam schnell und bestimmt.
Immer noch sah sie ihn nicht an, aber sie sagte wenigstens etwas. Laut Claudia, die in der Tür stand und die Situation mit Tränen in den Augen beobachtete, war dies die erste Reaktion seit Stunden.
„Nun, mir ist das nicht egal. Und, soll ich dir sagen warum nicht?“
Immer noch versuchte Saskia ihn zu ignorieren. Dass er sie etwas fragte, weckte ihre Neugierde, was sie jedoch unmöglich offen zugeben konnte. Nur ein kurzer Blick zu dem Mann, der neben ihrem Bett saß, verriet, dass sie auf eine Erklärung wartete.
„Weil du mir nicht egal bist. Verrätst du mir bitte, wer deine Freunde auf dem Bild sind?“
Wieder bekam er keine befriedigende Antwort. „O. k., wenn du etwas brauchst oder dich einfach nur mal mit jemandem unterhalten möchtest, dann klingel nach uns.“ Rene stand auf, drehte sich um und lief bewusst langsam auf den Ausgang zu, noch immer in der Hoffnung, dass die Kleine es sich anders überlegen und mit ihm reden würde.
„Jenny, Sabrina, Kevin, Mike und der blöde Sven.“
Rene kam zurück, nahm das Foto noch einmal in die Hand und sah es sich genauer an. Es waren sechs Kinder abgelichtet. Davon ausgehend, dass sie, wie die meisten Menschen es getan hätten, die Kinder der Reihe nach von links nach rechts aufzählt hatte, vermutete er, dass das dritte Mädchen von links sie selbst war, ein Kind mit einem scheinbar fröhlichen Lachen in einem blauen Kleid. Dass selbst dieses Lachen nur für den Fotografen aufgesetzt war, konnte er deutlich fühlen. Alle Kinder mit Ausnahme von Sven, der ganz rechts stand, hatten etwas in den Augen, das ihre Traurigkeit ausdrückte, während der Mund lachte. Rene überkam ein kalter Schauer. Ohne diese Aufzählung hätte er keine Chance gehabt, unter den Mädchen auf dem Foto das Kind wiederzuerkennen, das nun vor ihm lag.
Die Kleine hatte zum ersten Mal gesprochen, und das galt es zu nutzen. Würde er jetzt den Raum verlassen, dann wären diese fünf Namen das Letzte gewesen, was Saskia vor ihrem bevorstehenden Tod gesagt hätte. Dazu konnte Rene es nicht kommen lassen. Also stellte er, während er wieder auf dem Besucherstuhl Platz nahm, die nächste Frage.
„Wo ist dein Teddy auf dem Foto?“
„Mr. Bär?“ Endlich sah sie ihn an. Rene lächelte freundlich.
„Ja! Mr. Bär.“
„Der durfte nicht mit aufs Foto. Die wollen nicht, dass jemand sieht, wie alt die Spielzeuge sind, die sie uns zum Spielen geben. Aber das ist mir egal. Ich habe ihn trotzdem lieb.“
Sie drückte das verfilzte Knäuel noch fester an sich.
Rene wusste, dass er den Moment nicht überstrapazieren durfte. Zudem merkte er, dass ihm die Geschichte sehr naheging, und das wollte er sich nicht anmerken lassen. Langsam stand er wieder auf und streichelte Saskia sanft über die Stirn. „Wenn du etwas brauchst, dann klingel nach mir oder ruf mich einfach. Ich bin nebenan. O. k.?“
„O. k. Rene!“
Sie nannte ihn beim Namen. In ihm stiegen Gefühle auf, die er kaum noch kontrollieren konnte. Die Luft zum Atmen wurde ihm knapp. Der Hals zog sich scheinbar zu und er musste aufpassen, dass ihm nicht vor den Augen des Kindes die Tränen ins Gesicht schossen.
Schnell wandte er sich von seiner Patientin ab.
Claudia stand die ganze Zeit über im Türrahmen. Als Rene an ihr vorbeilief, wollte sie ihm irgendetwas Aufmunterndes sagen, was er jedoch mit einer eindeutigen Geste ablehnte. „Jetzt bitte nicht!“ Er ging an seinen Schreibtisch und legte für ein paar Minuten den Kopf in beide Hände. Anschließend atmete er noch ein paar Mal tief durch, stand auf und ging zur nächsten Patientin. „Guten Morgen Frau Schumann. Wie haben Sie geschlafen?“
Im Keller des Krankenhauses ging Thomas, als hätten die gestrigen Ereignisse nicht stattgefunden, wie jeden Tag seiner langweiligen Arbeit nach. Er wurde jedoch unterbrochen, weil mehrere Pakete mit Krankenakten zurück gebracht wurden. Diese waren inzwischen von einer Fachfirma eingescannt und digitalisiert worden. Für Thomas war mit diesen Lieferungen immer die gleiche Prozedur verbunden. Die beiden Fahrer, die er inzwischen recht gut kannte, brachten mehrere Sackkarren mit Kartons, die vorher ordentlich beschriftet worden waren, sodass Thomas beim Wiedereinsortieren keinerlei Mühe hatte, sie in die Hängeregister, aus denen er sie ein paar Wochen zuvor entnommen hatte, abzulegen. Es gab inzwischen ein festes Ritual, das sich im Laufe der Zeit eingespielt hatte. Zweimal brachten die beiden Lieferanten ihm einen Kaffee aus dem Automaten in der Empfangshalle mit. Bei jedem dritten Besuch war Thomas an der Reihe, die beiden mit Getränken zu versorgen. Zwischen den einzelnen Gängen zum Auto gab es kurze Pausen, in denen einer der beiden meist heimlich eine Zigarette rauchte und man einen Small Talk hielt. Der Lieferwagen war immer bis unter das Dach gefüllt, weshalb sich die Sache auf bis zu zwei Stunden hinzog. Natürlich hätte man die Arbeit auch in weniger Zeit erledigen können, aber das machte wenig Sinn.
In der Zwischenzeit übertrug nämlich ein EDV-Fachmann, den die Firma mitschickte, alle inzwischen erfassten Daten in die Computeranlage des Krankenhauses. Der Server stand zwar auch im Keller der Anlage, aber dort befand sich kein eigenes Terminal mit der erforderlichen Zugangsebene. Die Terminals für die Systempflege befanden sich ausschließlich in der 15. Etage. Natürlich gab es auch ein paar Computerarbeitsplätze auf den einzelnen Stationen, aber diese dienten nur zur reinen Datenerfassung und Einsicht. Schließlich sollte jeder behandelnde Arzt auch kurzfristig Zugang zu diesen Daten haben.
Bereits vor einem halben Jahr war jeder der Zugangsberechtigten zu einem einwöchigen Seminar geschickt worden, bei dem er mit der Handhabung der neuen Technik vertraut gemacht wurde. Besonderen Wert legte man dabei auf den Bereich Datenschutz. Jeder Teilnehmer bekam zum Seminarende neben einer Urkunde auch seinen eigenen achtstelligen Berechtigungscode, bestehend aus Buchstaben und Zahlen, in einem verschlossenen Umschlag ausgehändigt.
Den meisten von ihnen wäre eine reine Zahlenkombination zwar lieber gewesen, weil man sich diese besser einprägen konnte, aber das war nicht möglich. Aus den verschiedensten Anwendungsgebieten der EDV und insbesondere auf dem Gebiet der Datenverschlüsselung wusste man mittlerweile, dass reine Zahlencodes wesentlich leichter zu knacken sind als die inzwischen verwendeten Kombinationen aus Zahlen und Buchstaben. Jeder Berechtigte musste damals eine Erklärung unterzeichnen, die es ihm untersagte den Code jemals einem Kollegen zu verraten.
In einem anderen Krankenhaus war ein paar Monate zuvor sogar ein Stationsarzt entlassen worden, weil herauskam, dass er eine Krankenschwester damit beauftragt hatte, ihm etwas auszudrucken und ihr zu diesem Zweck seinen persönlichen Zugangscode mitgeteilt hatte.
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