Sie hielt ihr einzig verbliebenes Spielzeug an ihr Ohr. „Also, Mr. Bär sagt, er will. Aber eins musst du mir versprechen.“ Rene lächelte kurz, setzte aber sofort wieder ein ernstes Gesicht auf, um seiner kleinen Patientin zu demonstrieren, wie ernst er sie nahm. „Was soll ich dir denn versprechen?“
Saskias braune Knopfaugen wurden richtig groß. „Du darfst Mr. Bär nie in ein Heim geben.“
„Großes Ehrenwort“, sagte Rene und reichte ihr seine Hand, um das gegebene Versprechen zu besiegeln.
Claudia kam in den Raum. „Ich habe Tanja erreicht, sie kam zwar erst heute Nacht zu Hause an, ist aber in einer Stunde hier und übernimmt den Rest deiner Schicht.“
Als Rene sich wieder zu Saskia umdrehte, stellte er fest, dass sie inzwischen wieder eingeschlafen war. Vorsichtig löste er ihre kleinen Finger, die immer noch seinen Daumen umklammerten. „Psst! Lass uns rausgehen. Sie braucht jetzt ihren Schlaf. Wer weiß, wie viele gute Träume ihr noch bleiben?“
„Du hast bestimmt recht“, bestätigte Claudia. „Sie hat, laut Frau Herrmann, die ganze Nacht kaum geschlafen. Ich glaube, sie hat sich krampfhaft wach gehalten und auf dich gewartet.“ Beide drehten sich noch einmal um.
Der Herzmonitor piepte leise und im Moment völlig regelmäßig.
Bevor Rene das Krankenhaus verließ, holte er für Saskia noch einen Pudding aus der Kantine. Wenn sie aufwachen würde, dann wäre Tanja bei ihr. Tanja konnte gut mit Kindern umgehen und Saskia bestimmt erklären, dass Rene bereits am Abend wieder bei ihr sein würde.
Auf dem Heimweg versuchte er Thomas auf seinem Handy anzurufen, aber entweder hatte er es abgeschaltet oder im Keller einfach nur keinen Empfang. Also beschloss er ihm eine SMS zu schicken, um ihn über die unerwartete Planänderung zu informieren.
Um mit den Angehörigen der ehemaligen Patienten zu telefonieren, fuhr er nach Hause, weil er dort eine Telefonflatrate hatte, was bedeutet, dass für alle anfallenden Gespräche ins deutsche Festnetz keine zusätzlichen Gebühren entstehen. Bereits bei der ersten Nummer, die er wählte, stieß er jedoch auf erhebliche Schwierigkeiten, als ihm eine Stimme ins Ohr flüsterte, dass die Rufnummer leider nicht vergeben war. Noch einmal überprüfte er den Namen und die Adresse im Telefonbuch. Der dort angegebene Anschluss wies einen ‚Manfred Haller’ aus. Die Schreibweisen waren identisch. Also hatte er keinen Fehler gemacht, als er die Telefonnummer herausgesucht hatte. Eine Gegenkontrolle im stets aktuellen Online-Telefonverzeichnis ergab auch nichts anderes.
Kurz entschlossen griff er sich seine Autoschlüssel und fuhr zur angegebenen Adresse. Das Haus, in dem Manfred Haller wohnte, befand sich mitten in der Stadt. Es war einer dieser Altbauten, wie sie zu Beginn des 20. Jahrhunderts entstanden waren. Die Fassade war mit Ornamenten verziert und die Hauseingangtür mindestens vier Meter hoch. Irgendwann im Laufe der Jahre war eine Klingelanlage im Eingangsportal installiert worden, wie sie bei der Erbauung des Hauses mit Gewissheit noch nicht existiert hatte. Rene fuhr die vier Spalten mit den Namen nacheinander von oben nach unten ab. Der Name Haller war jedoch nicht zu finden. Kurzerhand klingelte er irgendwo im Erdgeschoss. Ein leises Summen verriet, dass jemand die Haustür entriegelte. Rene trat ein und sofort lugte der Kopf einer älteren Dame um die Ecke. „Wir kaufen nichts!“ Rene lachte. „Ich will Ihnen auch gar nichts verkaufen. Ich suche Familie Haller.“
„Die wohnen nicht mehr hier“, erwiderte die ältere Dame ihm in einem rüden Ton.
„Mein Name ist Rene Reinicke, ich habe Herrn Haller im Krankenhaus betreut und müsste jetzt dringend mit Frau Haller sprechen.“
Wieder äußerte sich die ältere Dame mit einem erkennbaren Unterton der Missbilligung.
„Ich denke nicht, dass Inge mit euch Kurpfuschern noch etwas zu tun haben will. Und jetzt verlassen Sie bitte das Haus. Sie haben hier nichts verloren.“
Bevor Rene darauf reagieren konnte, fiel die Wohnungstür ins Schloss und ihm blieb nichts anderes übrig, als wieder zu gehen.
Enttäuscht fuhr er wieder nach Hause. Im Internet suchte er nun die Telefonnummer von Inge Haller. Als er nicht fündig wurde, versuchte er es mit dem Vornamen Ingrid. Diesmal hatte er mehr Glück. Eine Ingrid Haller wohnte nur zwei Querstraßen von der Adresse, die er erfolglos besucht hatte, entfernt. Sofort wählte er die angegebene Telefonnummer. Frau Haller konnte sich noch sehr gut an ihn erinnern, auch wenn der Tod ihres Mannes nun fast zwei Jahre zurücklag. Rene bat darum, sie besuchen und mit ihr über ihren Mann reden zu dürfen. Sofort stellte sich Skepsis bei der 55-jährigen Witwe ein. „Haben die Ärzte damals etwa doch Mist gebaut?“
„Nein“, entgegnete Rene. „Ich möchte einfach alles, was ich in meiner beruflichen Laufbahn erlebe, aufschreiben, um mich später daran zu erinnern. Und wer weiß? Vielleicht schreibe ich eines Tages mal meine Memoiren.“
Frau Haller willigte ein, weil sie dafür das größte Verständnis hatte. Auch sie hatte vor einigen Jahren eine Geschichte in Romanform geschrieben, sie jedoch durch den frühen Tod ihres Mannes nie veröffentlicht.
Bereits 20 Minuten später klingelte Rene an der Tür von Frau Haller. Er hatte schon am Vormittag einen Kasten Konfekt von einer Tankstelle besorgt, den er nun überreichte. Frau Haller sah wesentlich erholter aus, als er sie in Erinnerung hatte. Anders als damals, wo sie aus Kummer eher abgemagert wirkte, hatte sie offensichtlich einiges an Gewicht zugelegt. Für ihr Alter wirkte sie noch ungewöhnlich jugendlich. Zumindest kleidete sie sich entsprechend. Rene sah sich in der Wohnung um. Wie hatte diese Frau den Tod ihres Mannes verarbeitet? Gab es Hinweise darauf, ob sie inzwischen wieder in einer Partnerschaft lebte? Alles das hoffte Rene im darauf folgenden Gespräch herauszufinden.
Frau Haller hatte bereits Kaffee gekocht und goss ihm gerade eine Tasse davon ein.
Anschließend fragte sie ihn, ob er das Gespräch vielleicht aufnehmen oder sich lieber Notizen machen möchte.
Dankbar dafür, dass sie ihm diese Bitte erspart hatte, zog Rene ein Diktiergerät aus der Tasche, das er vor ein paar Jahren von einem Oberarzt geschenkt bekommen hatte, der sich seinerzeit ein digitales Gerät zulegte.
„Was wollen Sie also von mir wissen?“ Frau Haller schien direkt begierig darauf zu sein, ihre Geschichte jemandem erzählen zu können.
„Interessiert Sie, wie es mir nach dem Tod von Manfred ergangen ist?“
Rene rührte die Kaffeesahne in der Tasse um, legte den Löffel beiseite und erklärte ihr, was er wissen wollte. Anders als Frau Haller es erhoffte, wollte er zunächst nichts über ihr Leben nach dem Tod ihres Mannes erfahren, sondern viel mehr über die letzten Wochen und Monate davor. Er wusste, was er ihr damit abverlangen würde. Sie musste die wohl schlimmste Zeit ihres Lebens für ihn noch einmal durchmachen. War sie dazu bereit? Rene versuchte, es ihr so schonend wie möglich beizubringen.
„Mich interessieren zunächst erst mal andere Sachen. Zum Beispiel wie kam es zur Diagnose? Wie hat er es aufgenommen und was ist von dem Moment an bis zu seinem Todestag alles passiert? Am besten, Sie fangen einfach zu erzählen an. Wenn es Ihnen zu nahegeht, dann sagen Sie mir bescheid und wir machen eine Pause. Ich möchte keine alten Wunden aufreißen. O. k.? “
Frau Haller war einverstanden, und nachdem auch sie einen Schluck Kaffee getrunken hatte, fing sie zögerlich zu erzählen an.
„Eigentlich war Manfred immer kerngesund. Bis zum Alter von 35 Jahren spielte er aktiv Fußball und später Tennis. Ich habe Manfred nie klagen hören.
Er sagte immer, wenn man nicht krank sein will, dann ist man es auch nicht. Darum mied er Ärzte, wo immer es ging.
Ich muss bestimmt nicht erwähnen, dass er durch diese Überzeugung auch nie zu irgendeiner Krebsvorsorge-Untersuchung ging. Auch nicht, als er dann älter wurde.
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