1 ...7 8 9 11 12 13 ...20 „Klar, soweit sie sich hier unten befinden, sollte das kein Problem sein. Das meiste ist im Moment jedoch nicht im Hause, weil es derzeit gescannt und digitalisiert wird, damit die behandelnden Ärzte und auch die Krankenkassen von überall einen schnellen Zugriff darauf haben. Erst danach wird alles wieder hier unten eingelagert, um dem Gesetz genüge zu tun. Schließlich haben alle Patienten einen Anspruch darauf, die Originalakten einzusehen. Bitte trag dich schon mal in die Besucherliste ein und gib mir den 414er. Ich suche dir die Sachen dann heraus.“
Thomas schob Rene ein Klemmbrett über den Tisch zu, auf dem dieser seinen eigenen Namen, den des Arztes, der die Unterlagen anforderte, sowie Datum und Uhrzeit eintragen sollte.
„Den 414er?“ Rene wusste nicht, wovon Thomas sprach.
„Na das Anforderungsformular, das der Arzt, der dich schickt, unterschrieben hat.“
„Ich wusste nicht, dass ich so einen Wisch brauche. Kannst du mir die Unterlagen nicht so geben? Ich müsste jetzt erst wieder hoch bis in die fünfte Etage und das Ding besorgen.“
Thomas sah Rene misstrauisch an. „Sei mal ehrlich. Dich hat doch in Wahrheit niemand geschickt. Du willst selbst hineinsehen.“
Rene senkte den Kopf wie ein Kind, das von seinem Vater bei einer Lüge ertappt worden war.
Für Thomas war diese Geste ein eindeutiger Beweis, dass er mit seiner geäußerten Vermutung genau ins Schwarze getroffen hatte.
„Geht es um deine Bekannte? Ich habe von der Geschichte gehört. Auch, dass du das halbe Krankenhaus verrückt gemacht hast, weil du mit der Behandlung unzufrieden warst.
Weißt du, wir haben alle Verständnis für deine Situation, aber glaube mir, die Ärzte hier wissen genau, was sie tun. Schließlich gehört unser Haus zu den besten. Insbesondere im Bereich der Krebsforschung sind die Ärzte hier immer auf dem neuesten Stand.“
Rene merkte, wie ihm das Blut in den Kopf schoss. Er war ein schlechter Lügner und Thomas hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Ihn weiter anzulügen machte nach dieser Peinlichkeit keinen Sinn mehr.
„Du hast recht. Es geht mir tatsächlich um Krankheitsverläufe aus dem Bereich der Onkologie, speziell die mit tödlichem Ausgang.“
Thomas wurde kreidebleich. Rene wollte nicht nur die Akte seiner Bekannten einsehen, sondern die aller Patienten. „Bist du komplett wahnsinnig? Wenn so etwas herauskommen würde, dann könnten wir beide uns sofort als Hartz-IV-Empfänger anmelden. Und um einen Job in einem Krankenhaus bräuchten wir uns für den Rest unseres Lebens nicht mehr bewerben. Niemand würde uns jemals wieder einstellen. Tut mir leid, aber in diesem ganz speziellen Fall kann ich dir beim besten Willen nicht helfen, selbst wenn ich es wollte und bereit wäre meinen Job dafür zu riskieren.“
Den letzten Kommentar verstand Rene nicht. Thomas bräuchte, wenn er es wirklich wollte, nur zu einem Regal gehen, die Akten herausnehmen und ihn einen kurzen Blick hineinwerfen lassen. Niemand würde davon erfahren.
„Ich kann es nicht, selbst wenn ich es wollte.“
„Du könntest die Tür offen stehen lassen und gerade Akten holen.“ Sein Blick fiel auf die Gitterbox, die immer noch unberührt an der Wand stand.
„Niemand würde erfahren, dass du etwas davon wüsstest.“
Thomas schüttelte ablehnend den Kopf. Nicht nur, weil er einem Freund seine Hilfe verwehren wollte, sondern auch, weil er keine Chance sah, ihm zu helfen, selbst wenn er dazu bereit gewesen wäre.
„Du würdest nichts finden, weil es diese Akten hier unten nicht gibt. Meinberg selbst hat sie unter Kontrolle. Niemand weiß, was er damit macht. Ich kann dir nicht einmal sagen, ob sie überhaupt noch auf Papier existieren, auch wenn wir eigentlich dazu verpflichtet sind, die Originale zu behalten. Es wird behauptet, dass er in einem Pilotprojekt als erste Abteilung die komplette Digitalisierung der Daten gefordert hat.“
„Bist du dir sicher, dass wir den gleichen Meinberg meinen?“
„Ja ich meine wirklich deinen Chef. Dass ausgerechnet er als Erster den Finger gehoben hat, das hat alle im Krankenhaus damals sehr überrascht. Schließlich hat Meinberg nicht gerade den Ruf, in irgendwelchen Sachen den Vorreiter zu spielen. Aber in diesem Fall hat er es wohl getan. Auf jeden Fall kommt seitdem niemand außer ihm an die Unterlagen heran. Und glaube mir, in seinem Computer sind sie so sicher wie in Fort Knox. Da gibt es elektronische Verschlüsselungsverfahren, von denen selbst die Bundesbank nur träumen kann.“
Rene sah seinen alten Bekannten an und schüttelte leicht lächelnd den Kopf. „Warum überrascht mich das nicht wirklich? Ich persönlich traue diesem Typen nicht weiter als ich ihn sehe. Und nach dem, was du mir da gerade erzählst, jetzt noch weniger als zuvor.
Der Kerl hat doch offensichtlich etwas zu verbergen. Ich weiß nur noch nicht was. Also muss ich eine andere Möglichkeit suchen, um herauszufinden, was dahintersteckt.“
Rene drehte sich zum Gehen um, wurde aber bereits wieder gestoppt, noch bevor er die Tür erreichte.
„Bist du sicher, dass du dich wirklich mit Meinberg anlegen willst? Wenn der etwas mitbekommt, dann zerreißt er dich in der Luft.“
Noch einmal wandte Rene sich Thomas zu.
„Muss er denn etwas mitbekommen?“ Plötzlich gab er sich ungewöhnlich selbstsicher. Der rote Kopf, der gerade noch bewiesen hatte, bei einer Lüge ertappt worden zu sein, war verschwunden und wich einem Ausdruck eiserner Entschlossenheit. Thomas kannte diese Züge an Rene nicht, aber irgendwie imponierte ihm die neue Art an seinem alten Freund. Im Innersten wartete er bereits seit langer Zeit darauf, dass endlich mal jemand einem aus der Führungsriege des Krankenhauses die Stirn bieten würde. Blitzschnell überlegte er nach einem Weg, um bei diesem Versuch helfen zu können. Und schon kam ihm eine Idee.
„Wenn du nicht an die Akten herankommst, dann solltest du dich vielleicht auf das konzentrieren, was nicht aufgeschrieben wurde.“
Jetzt war es Thomas, der mysteriös lächelte.
„Das, was nicht aufgeschrieben wurde? Wie soll ich das jetzt verstehen?“
„Nun da gibt es doch bestimmt noch Angehörige. Und für die Adressen ehemaliger Patienten brauchst du keine verschlossenen Akten oder verschlüsselten Daten, sondern nur das Patientenbuch der stationären Aufnahme.“
Rene musste an seine Begegnung mit der dicken Schwester denken, für die er mit dem Hintern gewackelt hatte und die das aktuelle Buch vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte.
„Wenn dir die Namen der Patienten bekannt sind“, fuhr Thomas fort „dann solltest du auch die Adressen herausfinden können, um die Angehörigen direkt zu befragen. Und eines weiß ich aus meiner Zeit als Referendar der Rechtsabteilung und den vielen Zeugenaussagen, die ich damals gelesen habe, mit Gewissheit:
Angehörige erinnern sich an Dinge, die kein Arzt jemals niederschreiben würde.“
„Und wo finde ich diese Bücher?“ Rene spürte, dass Thomas inzwischen bereit war, ihm zu helfen.
„Die könnten rein zufällig heute Abend in einem Wäschewagen hinten neben dem Parkplatz der Wäscherei liegen. Was kann ich dafür, wenn so ein Trottel vom Pflegepersonal die dreckige Wäsche in eine meiner Gitterboxen wirft. Und die Dinger sehen sich auch wirklich zum Verwechseln ähnlich. Allerdings muss ich, wenn die Dinger morgen früh immer noch in der Box liegen, eine Verlustanzeige schreiben, bevor sie jemand anders dort findet. Was meinst Du? Bekommst du das hin?“
Thomas warf Rene einen bedeutungsvollen Blick zu.
„Findest du wirklich, dass wir Pfleger alle Trottel sind?“
Thomas nahm die Tasse, die Rene benutzt hatte, vom Tisch und stellte sie in eine kleine Kunststoffwanne.
„Nein, nicht alle. Du bist kein Trottel. Du bist ein komplett Wahnsinniger.“ Dann riss er einen kleinen Zettel von einem Notizblock, notierte seine Handynummer und schob sie zu Rene rüber.
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