Nur ein einziges Mal versuchte er seinen Eltern mitzuteilen, worin er seinen Lebensinhalt sehe. Die Haushälterin hatte soeben das Hauptgericht serviert, als sich der 16-jährige Meinberg vorsichtig zu Wort meldete. „Könnt ihr mich nicht in einen Fußballverein anmelden? Ich möchte nicht mehr fechten.“ Der Vater legte sein Besteck auf den Tellerrand, tupfte sich behutsam den Mundwinkel ab und faltete die Hände wie zu einem Gebet, während die Mutter sich mit gesengtem Blick ihrem Essen widmete. Im Hause Meinberg gab es nur einen Menschen, der Regeln aufstellte, die dann unumstößlich eingehalten wurden.
„Fußball, mein lieber Sohn ist etwas für dumme Menschen. Sportarten wie diese wurden nur erfunden, um uns Intellektuelle zu amüsieren.“ „Aber …“, versuchte der junge Meinberg seinen Vater zu unterbrechen, als die Mutter ihn auch schon daran hinderte. „Du weißt doch, was Papa immer sagt: Wir sind nicht wie die Menschen, die du draußen auf irgendwelchen Plakaten siehst.“ Der Vater blickte seinen Sohn streng an „Neulich war es die Idee eines Tages als einfacher Mechaniker ein paar Groschen zu verdienen und heute ist es Fußball. Wir sind in dritter Generation Mediziner und du wirst diese Linie weiterführen. Also kein Fußball und keine Handwerkerausbildung. Ende der Diskussion!“ Als ob dieses Gespräch nie stattgefunden hätte, aß der Vater genüsslich weiter. ‚Wenn ich nicht mit mechanischen Maschinen arbeiten darf, dann muss ich lernen biologische Maschinen wie welche zu behandeln.‘, dachte der junge Meinberg bei sich, während er lustlos in seinem Essen herumstocherte. Über die Berufswahl wurde im Hause Meinberg nie mehr gesprochen. Eines jedoch schwor er sich an diesem Tag. ‚Es wird nie eine fünfte Generation an Mediziner aus dieser Familie geben!‘ Trotz des sehnsüchtigen Wunschs der Eltern eines Tages Enkel zu haben, blieb er immer Junggeselle und vergnügte sich lieber mit Prostituierten.
Echte menschliche Gefühle zu seinen Patienten hatte er bewusst nie zugelassen. Für ihn waren sie nur bessere Maschinen.
Inzwischen stand der Professor neben Rene im Fahrstuhl. Rene schaute kurz zu dem Mann auf, traute sich aber nicht ihn anzusprechen.
Erst zwei Monate zuvor hatte er gerade Frühschicht auf der Intensivstation. Alle seine Kollegen und die Ärzte aus der Onkologie befanden sich in einem Meeting. Nur dieser Professor Dr. Meinberg weigerte sich damals, wie schon so oft in der Vergangenheit, daran teilzunehmen. Rene betreute zu der Zeit einen Krebspatienten, der seit vier Tagen im Sterben lag, als er feststellte, dass der zuständige Stationsarzt, Dr. Seehof, offensichtlich die notwendige Medikation falsch eingestellt hatte.
Die Tochter und auch die Ehefrau des Patienten hatten Rene inständig angefleht, endlich etwas zu unternehmen. Sie hatten die letzten Stunden am Krankenbett verbracht und mit ansehen müssen, wie der Vater und Ehemann unter schrecklichen Schmerzen litt.
Also suchte er Dr. Meinberg auf und bat ihn um Rat. Meinberg, der gerade in irgendwelche Unterlagen vertieft war, schaute kurz auf und sah Rene über seinem Brillenrand verärgert an. Dass er sich durch Rene gestört fühlte, daran ließ er keinerlei Zweifel.
„Und warum kommen Sie damit zu mir? Geben Sie ihm doch, was Sie wollen. Der geht ohnehin innerhalb der nächsten paar Stunden ex. Hauptsache Sie nehmen nicht dieses teure Zeug, das bereits Ihrem Vorgänger den Job kostete. Und jetzt machen Sie bitte die Tür von draußen zu!“, fauchte er Rene damals an.
Auch wenn Rene die Gründe dafür nicht näher hätte erklären können, hatte er bei der Begegnung im Fahrstuhl plötzlich das Bedürfnis diesem Mann im Moment besser aus dem Weg zu gehen.
Kurzerhand änderte er seinen Plan, direkt in den Keller zu fahren, und legte vorerst einen Zwischenstopp im Erdgeschoss ein.
Dr. Meinberg verließ das Krankenhaus durch einen kleinen Seitenausgang, der zum Parkplatz für leitende Mitarbeiter führte. Erst als Rene beobachten konnte, dass der Professor sich mit seinem Mercedes in den fließenden Verkehr eingeordnet hatte, setzte er seinen Weg in den Archivkeller fort. Wahrscheinlich hatte der Herr Professor wieder einen seiner wichtigen beruflichen Termine, an die inzwischen kein Mensch mehr glaubte.
Die dicke Krankenschwester, die gerade an der Aufnahme saß, fragte Rene, was sie für ihn tun könne, weil er direkt vor ihr am Empfangstresen stand, als ob er nach etwas suchte. Er kannte diese Schwester, nicht besonders gut. Auch allen seinen Kollegen und Kolleginnen ging es ähnlich. Irgendjemand hatte das Gerücht in die Welt gesetzt, dass sie aus einem anderen Krankenhaus strafversetzt worden sei, weil sie eine sexuelle Beziehung zu einer Ärztin gehabt hätte, die ihrer inzwischen überdrüssig geworden war. Alle Krankenschwestern, die dem Krankenhaus frisch zugewiesen wurden, setzte man genau wie sie erst einmal an den Anmeldetresen, die wohl langweiligste Aufgabe im gesamten Krankenhaus. Während die meisten ihrer Vorgängerinnen jedoch nach ein bis zwei Monaten einer Station zugewiesen wurden, saß diese Schwester schon seit fünf Monaten an diesem Platz.
Bis auf ein kurzes „Hallo“ oder „guten Morgen“ hatte Rene noch nie ein Wort mit der ungefähr 30-jährigen Frau gewechselt. Sie trug eine modische Kurzhaarfrisur, die zwar nicht unweiblich wirkte, aber das Gerücht über ihre angeblichen sexuellen Neigungen eher förderte als dementierte.
Mannweib und Kampflesbe waren noch die mildesten Begriffe, die man sich hinter vorgehaltener Hand zutuschelte. Rene hatte einen Moment Zeit sie zu beobachten, wobei ihm nicht entging, dass sie einigen männlichen Besuchern unauffällig aufs Hinterteil sah. Auch der Ton, in dem sie ihn soeben ansprach, wirkte ausgesprochen feminin, was Rene leicht verwirrte.
„Hat sich schon erledigt. Ich sollte hier eigentlich meine Schwester abholen, weil sie mit mir zu Mittag essen wollte. Aber mir fiel gerade ein, dass ich mich in der Uhrzeit vertan habe. Einen schönen Tag noch.“ Er drehte sich um und ging zielstrebig wieder zu den Fahrstühlen, wobei er die Blicke der dicken Schwester deutlich zu spüren glaubte. Innerlich musste er lachen. Demonstrativ wackelte er im Gehen mit dem Gesäß, drehte sich kurz um und fragte scheinheilig: „Gut so?“
„Das üben wir aber noch mal!“ Die Schwester schob ihre Lesebrille, über deren oberen Rand sie gerade sah, wieder hoch und widmete sich lächelnd wieder ihren Aufgaben.
Eine junge Familie mit Blumensträußen in den Händen, die gerade einen der Fahrstühle betreten hatte, rückte etwas zusammen, als Rene ankam. „Wollen Sie mitfahren?“, fragte die Frau. „Nein danke, ich nehme den Nächsten“, erwiderte er. Endlich auf dem Weg in den Keller fiel ihm auf, dass er seit Jahren nicht mehr dort unten gewesen war. Er wusste nur noch, dass der Keller flächenmäßig größer war als das eigentliche Hauptgebäude. Der ursprüngliche Keller des Altbaus, der früher existiert hatte, wurde vor einigen Jahren einfach mit dem des angrenzenden Neubaus verbunden. Anschließend, so erzählte es ihm irgendwann der alte Pförtner, der für die Schranke zum Krankenhausgelände zuständig war, wurde der Altbau komplett bis auf den Keller abgerissen. Auf seinen Grundmauern entstand die Hals-Nasen-Ohren-Abteilung zusammen mit der Augenklinik und eigenem Zugang von der Straße.
So war es möglich diese Abteilung für ambulante Durchgangspatienten bereitzuhalten, die sich nicht dem komplizierten System der Anmeldung im Hauptgebäude unterziehen mussten.
Wenn Rene sich recht erinnerte, so befand sich das Archiv im alten Teil des Kellers, was bedeutete, dass er beinahe das ganze Gewölbe durchqueren musste, um dort hinzugelangen. Endlich beim Archiv angekommen stand er jedoch vor einer verschlossenen Tür. Gab es irgendwo einen Hinweis über die Öffnungszeiten? Noch während er danach suchte, hörte er Schritte, die schnell näher kamen, sowie das Geräusch eines Wagens, den anscheinend jemand schob.
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