Oh wie weit und fröhlich dünkte dem fliegenden Herrn Spatt die große Welt, und wie voller Leben der weite herbstliche Wald, der ihm früher oft so traurig und öde erschienen. Fleißig hob und senkte er seine kleinen Flügel, unablässig suchten seine Augen die Landschaft unter ihm ab, und wenn seine Stimme auch nur ein einfaches Piep abgab statt der tausendfältigen Modulationen der menschlichen Zunge, fröhlicher konnte es auch kein Menschenmund sagen, als dieser Vogelschnabel es tat.
Aber plötzlich war es, als rühre den kleinen Spatzen eine Ahnung drohender Gefahr an. Sein Herz zog sich zusammen, sein Flug wurde zögernder, ja, sogar das Tageslicht schien grauer geworden zu sein. Noch aufmerksamer spähte er in jede Richtung, hielt sich dicht über den bergenden Baumkronen. Und das war gut – denn plötzlich schwebte es dunkel und lautlos von der einen Seite heran und nahe funkelnd erblickte er die großen Augen einer Eule ... Der Spatz machte ein paar rasche Flügelschläge zur Seite, aber auch von dieser Seite schwebte es dunkel und dräuend heran mit gelben, bösen Augen ... Rasch ließ er sich ins bergende Geäst fallen, landete auf einem Zweig, flatterte ihn entlang, bis er geborgen im Astwinkel, dicht an den Stamm gedrückt, dasaß. Er hätte sich ja nun leicht am Stamm hinunterlassen können, auf der Erde angelangt, sich in seine menschliche Gestalt zurückverwandeln und unbelästigt von Eule und Uhu den Weitermarsch antreten können, aber schon brach die Dämmerung herein, und es bestand keine Aussicht, in der Nacht auf düsteren Waldpfaden den Weg zum Onkel zu finden. Zudem plagte ihn eine seltsame Neugierde zu erfahren, was es mit diesen beiden Raubvögeln, die ihm seltsam bekannt erschienen waren, wohl für eine Bewandtnis habe.
Schon wollte ihm die Wartezeit fast lang erscheinen, da verdunkelte ein großer Fittich den blassen Himmel über ihm, und lautlos heranstreichend setzte sich die große Eule auf den Ast ihm zu Häupten. Einen Augenblick später wurde es noch einmal düster, und nun war auch der finstere Schuhu angelangt. ›Ein Jammer, daß ich nicht Eulisch verstehe‹, dachte Herr Spatt bei sich. ›Was für eine seltsame Unterhaltung würde ich dann wohl jetzt zu hören bekommen!‹
Aber wie erstaunte er, als er den Uhu in bestem Deutsch mit einer sehr bekannten Stimme sagen hörte: »Ich sage Euch doch, Herr Rat, er wird längst seine Menschengestalt angenommen haben und zu Fuß den Weg zu seinem Onkel machen.«
»Nur Seine Unachtsamkeit ist an allem schuld, Schuhu!« schalt darauf die Eule. »Hätte Er besser in der Amtsstube aufgepaßt, hätte der Bursche nie mit dem Spatzen reden und das zauberische Haar in seinen Besitz bringen können.« »Aber ich sage Euch doch, hoher Herr Rat«, hörte Herr Spatt den alten Schuhu recht lügnerisch krächzen, »ich habe mit Euerm Klienten nicht länger als drei Minuten gesprochen, und doch war, als ich zurückkam, das Unglück schon geschehen.«
»Und nicht einmal gemerkt hat Er etwas davon, Bubo«, erboste sich die Eule. »Da mußten erst kostbare Stunden vergehen, bis ich kam und alles entdeckte.«
»Bei Tage taugen meine Augen wenig«, entschuldigte sich demütig der Schuhu. »Gestattet, Herr, daß wir jetzt schnell zum Spatt'schen Hofe fliegen. Da wird sich rasch eine Gelegenheit finden, ihm das Haar zu entreißen und unserer Tante einen warnenden Bescheid zu geben!«
»Und zusammen kommen die beiden Kinder doch«, grollte der Herr Rat. »Nie hätte das geschehen dürfen! – Aber heute nacht können wir doch nicht dorthin, ich muß jetzt sofort zu meinem Freunde Habergreis, den der leichtfertige Bursche ganz von Sinn und Verstand geflattert hat. Morgen will ich dann sehen, was auf dem Spatt'schen Hofe noch zu retten ist. – Er aber, Schuhu, bleibe hier noch eine Weile auf der Baumspitze sitzen und paß Er mir gut auf, ob Er den Flüchtling nicht doch noch erspäht! Dann aber fliege Er eilig auf die Geschäftsstube, Er weiß, wir müssen dem hoffärtigen Hintermeyer heute nacht noch ein artig Tränklein aus unseren Akten brauen!«
Dazu lachte die Eule so hämisch, teuflisch, daß dem kleinen Spatz ein eisiger Schrecken durchs Gebein fuhr; in einem ganz anderen Licht erschien ihm plötzlich die Schreiberei, die er harmlos und ohne viel nachzudenken ausgeübt. Und daß sein ehemaliger Brotherr (der es nie wieder sein sollte, so schwor er sich) gerade ein Freund des habgierigen Habergreis und ein Feind des wohltätigen Hintermeyer war, wollte ihm auch wenig gefallen. Zudem klangen ihm die dunklen Anmerkungen über sein Geschick, das so seltsam mit dem der unbekannten schönen Base verknüpft schien, gar nachdenklich in den Ohren, und er hätte gar zu gerne gewußt, wer denn die Tante sei, die auf dem Hof des Onkels mit den eulischen Bösewichten im Bündnis lebe. Doch machte ihm das alles das Herz nicht sehr schwer, er verließ sich auf sein Glück, von dem er heute schon mehrere Proben erlebt zu haben meinte, und auf seinen guten Verstand.
Die Eule war lautlos davongeschwebt, im Geäst oben hatte es ein wenig geraschelt, wohl davon, daß der lügnerische Schreiber Bubo seinen Luginsland bezog, und Herr Spatt wünschte nur, daß dem der erfolglose Ausguck recht bald leid werde, denn bequem saß er nicht auf seinem einen Bein, da er mit dem anderen das Haar halten mußte. Auch brach die Dämmerung immer rascher herein.
»Lieber Bruder!« krächzte es plötzlich von der Tannenspitze her – und Herr Spatt hätte in unsäglichem Schrecken fast das Haar fallen lassen. »Erschrick nicht, ich habe längst den Zipfel Deiner graubraunen Jacke unter dem Ast hervorlugen sehen, auf dem wir über Dir saßen. Meine Augen sind sehr viel besser, als der Herr Rat wahr haben will, und jedenfalls sehen sie schärfer als die seinen. – Ja, ich weiß, lieber Bruder, Du möchtest mich mancherlei fragen, aber die Kraft des Haares in Deiner Kralle ist begrenzt und Du bringst es nicht über ein jämmerliches Piep hinaus. Fliege nur ungescheut los, und in wenigen Augenblicken hast Du den Hof des Onkels erreicht. Dort wirst Du schon alles zur gegebenen Zeit erfahren, was Dir zu wissen not tut, nur merke Dir eines: Küssemund ist ungesund!« Und damit erhob sich der große Schuhu, heiser aufkrächzend, in die Luft und flog von dannen, als wisse er recht gut, daß der Bruder Spatt ihm nur halb, nein, garnicht traute, und nie losfliegen würde, so lange er noch in der Nähe sei.
Eine kleine Weile saß der Spatz noch geduckt im Baum, dann aber hob er sich in die Lüfte, und mit dem letzten Tagesschimmer flog er eilig nach Süd. Die untergehende Sonne durchbrach noch einmal das dichtgeballte Regengewölk, in der Ferne blitzte es, funkelte es – und nun war der große Wald zu Ende, Wiesen und Felder lagen sanft hingestreckt unter dem Fliegenden, als ruhten sie aus von der Beschwernis des Sommers; der Turmhahn funkelte heller ... Mit einem Gruß flog der Spatz an ihm vorbei und überflog erst einmal, Einblick zu gewinnen, das Dorf.
Stattlich lag es da, ein behäbiger Hof neben dem andern, mit den räumigen, weißgetünchten, rotbeziegelten Wohnhäusern, die ererbten und bewahrten Wohlstand bewiesen; mit den langgestreckten Viehställen, aus denen hungrig jetzt die Stimme der nützlichen Insassen klang; mit den sauber geschichteten und getrampelten Dunghaufen, der nächstjährigen Ackernahrung; und mit den hohen Scheunen, die doch noch zu klein für den Erntesegen gewesen waren, denn manche Miete stand noch auf dem Acker. Jeder Hof führte sein Wahrzeichen: hier war es eine Reihe von Kastanien die Dorfstraße entlang, dort hatte ein längst begrabener Bauer Walnüsse angepflanzt, und ihre ungeheuren Kronen rühmten noch heute den Toten. Auf dem First einer Scheune lag ein großes Storchennest; ein anderer aber, dem wohl ein Bruder zur See fuhr, hatte die Barten eines Walfisches als einen Laubengang von der Straße zum Haus gesetzt.
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