Unsere instinktive Sicht ist, dass wir wichtiger sind als alle anderen. Die Sicht aller erleuchteten Wesen hingegen ist, dass die anderen wichtiger sind. Welche dieser beiden Sichtweisen ist von größerem Nutzen? Seit anfangsloser Zeit waren wir Leben für Leben Sklaven unseres Geistes der Selbstwertschätzung. Wir haben ihm bedingungslos vertraut und jeden seiner Befehle befolgt, weil wir glaubten, dass der Weg, unsere Probleme zu lösen und Glück zu finden, darin besteht, uns an die erste Stelle zu setzen. Wir haben so hart und so lange für unser eigenes Wohl gearbeitet, doch was haben wir jetzt vorzuweisen? Haben wir alle unsere Probleme gelöst und das anhaltende Glück gefunden, nach dem wir uns sehnen? Nein. Es ist offensichtlich, dass es uns in die Irre geführt hat, unsere eigenen, egoistischen Interessen zu verfolgen. Nachdem wir in so vielen Leben unserer Selbstwertschätzung nachgegeben haben, ist es nun an der Zeit zu erkennen, dass dies einfach nicht funktioniert. Jetzt ist es die Zeit, das Objekt unserer Wertschätzung zu wechseln und nicht mehr uns selbst, sondern alle Lebewesen zu schätzen.
Bodhisattva Langri Tangpa und zahllose andere erleuchtete Wesen haben herausgefunden, dass sie wahren Frieden und Glück erlebten, indem sie Selbstwertschätzung aufgaben und ausschließlich andere wertschätzten. Wenn wir die Methoden umsetzen, die sie lehrten, gibt es keinen Grund, warum wir nicht in der Lage sein sollten, es ihnen gleichzutun. Wir können nicht erwarten, unseren Geist über Nacht zu ändern. Doch indem wir geduldig und konsequent die Anleitungen der Acht Verse umsetzen und gleichzeitig Verdienste ansammeln, Negativität reinigen und Segnungen erhalten, können wir allmählich unsere gewöhnliche selbstwertschätzende Haltung durch die höchste Gesinnung ersetzen, die alle Lebewesen wertschätzt.
Um dies zu erlangen, müssen wir nicht unsere Lebensweise ändern, doch wir müssen unsere Sichtweisen und Absichten ändern. Unsere gewöhnliche Sicht ist, dass wir der Mittelpunkt des Universums sind und dass andere Menschen und Dinge ihre Bedeutung hauptsächlich daraus erhalten, wie sie uns betreffen. Zum Beispiel ist unser Auto wichtig, weil es eben uns gehört, und unsere Freunde sind wichtig, weil sie uns glücklich machen. Fremde hingegen scheinen nicht so wichtig zu sein, weil sie unser Glück nicht direkt betreffen und wenn das Auto eines Fremden kaputt geht oder gestohlen wird, macht uns das nichts aus. Wie wir in späteren Kapiteln sehen werden, beruht diese ichbezogene Sicht der Welt auf Unwissenheit und stimmt nicht mit der Wirklichkeit überein. Diese Sichtweise ist die Quelle all unserer gewöhnlichen egoistischen Absichten. Gerade weil wir denken: «Ich bin wichtig, ich brauche das, ich habe das verdient», begehen wir negative Handlungen, die zu einer endlosen Flut von Problemen für uns und andere führen.
Indem wir die Anleitungen der Acht Verse umsetzen, können wir eine realistische Sicht von der Welt entwickeln, die auf dem Verständnis der Gleichheit und gegenseitigen Abhängigkeit aller Lebewesen beruht. Sobald wir jedes einzelne Lebewesen als wichtig ansehen, werden wir allen gegenüber ganz natürlich gute Absichten entwickeln. Während der Geist, der nur sich selbst wertschätzt, die Grundlage aller unreinen samsarischen Erfahrungen ist, ist der Geist, der andere wertschätzt, die Grundlage aller guten Eigenschaften der Erleuchtung.
Andere wertzuschätzen ist nicht so schwer. Wir müssen nur verstehen, warum wir andere wertschätzen sollten und dann den klaren Entschluss fassen, genau dies zu tun. Meditieren wir über diesen Entschluss, dann werden wir ein tiefes und starkes Gefühl der Wertschätzung für alle Lebewesen entwickeln. Dieses besondere Gefühl tragen wir dann in unseren Alltag mit.
Es gibt zwei Hauptgründe, warum wir alle Lebewesen wertschätzen müssen: Erstens haben sie uns unermessliche Güte erwiesen und zweitens hat es ungeheure Vorteile, sie wertzuschätzen. Dies wird nun erklärt.
Alle Lebewesen verdienen es, wertgeschätzt zu werden, da sie uns unglaublich viel Güte erwiesen haben. All unser vorübergehendes und endgültiges Glück entsteht aus ihrer Güte. Sogar unser Körper ist das Ergebnis der Güte anderer. Wir brachten ihn nicht aus unserem vergangenen Leben mit, sondern er entwickelte sich aus der Vereinigung des Spermas unseres Vaters und der Eizelle unserer Mutter. Nachdem sie uns empfangen hatte, erlaubte uns unsere Mutter aus Güte, in ihrem Schoß zu bleiben, nährte unseren Körper mit ihrem Blut und ihrer Wärme, ertrug großes Unwohlsein und uns zuliebe schließlich die schmerzhafte Tortur der Geburt. Nackt und mit leeren Händen kamen wir in diese Welt und uns wurde sofort ein Zuhause gegeben, Nahrung, Kleidung und alles, was wir brauchten. Als wir ein hilfloser Säugling waren, beschützte unsere Mutter uns vor Gefahren, sie fütterte uns, wusch uns und liebte uns. Ohne ihre Güte wären wir heute nicht am Leben.
Indem wir ständig Essen, Trinken und Zuwendung erhielten, entwickelte sich unser Körper von dem eines winzigen, hilflosen Säuglings nach und nach zu dem Körper, den wir jetzt haben. All unsere Nahrung wurde direkt oder indirekt von zahllosen Lebewesen bereitgestellt. Deshalb ist jede Zelle unseres Körpers das Ergebnis der Güte anderer. Sogar diejenigen, die ihre Mutter nie gekannt haben, erhielten Nahrung und liebevolle Fürsorge von anderen Menschen. Die bloße Tatsache, dass wir heute am Leben sind, ist der Beweis für die große Güte anderer.
Nur weil wir diesen jetzigen Körper mit menschlichen Fähigkeiten haben, können wir die Freuden und Möglichkeiten eines menschlichen Lebens genießen. Selbst einfache Freuden, wie spazieren zu gehen oder einen schönen Sonnenuntergang zu sehen, können als Folge der Güte unzähliger Lebewesen angesehen werden. Unsere Fertigkeiten und Fähigkeiten entspringen allesamt der Güte anderer. Uns musste beigebracht werden, wie man isst, geht, spricht, liest und schreibt. Sogar die Sprache, die wir sprechen, ist nicht unsere eigene Erfindung, sondern das Werk vieler Generationen. Ohne sie könnten wir uns nicht mit anderen unterhalten oder Ideen austauschen. Wir könnten dieses Buch nicht lesen, keinen Dharma lernen, ja noch nicht einmal klar denken. Alle Einrichtungen, die wir für selbstverständlich halten wie Häuser, Autos, Straßen, Läden, Schulen, Krankenhäuser und Kinos, entstehen nur aus der Güte anderer. Wenn wir mit dem Bus oder Auto fahren, halten wir die Straßen für selbstverständlich, doch viele Menschen arbeiteten sehr hart, um sie zu bauen und sicher zu machen, damit wir sie benutzen können.
Die Tatsache, dass manche Menschen, die uns helfen, gar nicht die Absicht dazu haben, ist ohne Belang. Da ihre Handlungen uns zugute kommen, ist es von unserem Standpunkt aus gesehen eine Güte. Anstatt über ihre Motivation nachzudenken, die wir ohnehin nicht kennen, sollten wir uns auf den praktischen Nutzen konzentrieren, den wir erhalten. Jeder, der in irgendeiner Art und Weise zu unserem Glück und Wohlergehen beiträgt, verdient unsere Dankbarkeit und unseren Respekt. Müssten wir alles zurückgeben, was andere uns gegeben haben, bliebe uns nichts übrig.
Wir könnten jedoch einwenden, dass wir nichts kostenlos erhalten, sondern dafür arbeiten müssen. Kaufen wir etwas, müssen wir dafür bezahlen, und essen wir in einem Restaurant, müssen wir die Rechnung begleichen Vielleicht haben wir ein Auto, doch das mussten wir kaufen und müssen nun für Benzin, Steuer und Versicherung aufkommen. Wir bekommen nichts umsonst. Woher aber kommt das Geld? Es ist richtig, dass wir im Allgemeinen für unser Geld arbeiten müssen. Doch es sind andere, die uns Arbeit geben oder unsere Ware kaufen und somit sind sie es, die uns indirekt mit Geld versorgen. Außerdem können wir eine bestimmte Arbeit nur verrichten, weil wir die dazu nötige Ausbildung oder Bildung von anderen erhalten haben. Wohin auch immer wir schauen, wir sehen nur die Güte anderer. Wir sind alle in einem Netz der Güte miteinander verbunden, aus dem wir uns unmöglich lösen können. Alles, was wir besitzen und an dem wir uns erfreuen, einschließlich unseres Lebens, entspringt der Güte anderer. In Wirklichkeit entsteht jegliches Glück, das es in der Welt gibt, als Ergebnis der Güte anderer.
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