Zwei Polizeifahrzeuge fuhren zum Strand herunter und Tamara erkannte im hinteren Fahrzeug ihren Freund Thorben. Innerlich atmete sie auf. Sie ging zu Henning hinüber und nahm schweigend seine Hand. Als wenn sie die Lage erkannt hatte, hatte sich ihre Hündin einige Meter entfernt an den Strand gelegt und beobachtete das Szenario mit Argusaugen.
Alles lief wie ein Film an Tamara vorbei, sie versuchte sich vorzustellen, wie die junge Frau wohl ums Leben gekommen war und so bekam sie nichts von dem mit, was um sie herum geschah. Erst als Thorben sie eine gute viertel Stunde später sanft an der Schulter rüttelte, kehrte sie in die Gegenwart zurück.
„Ist alles Ok bei Dir? Geht es Dir gut?“ wollte er wissen. Sie war unfähig zu antworten, sie nickte nur und hielt Hennings Hand noch fester, ohne zu bemerken, dass dieser bereits seit einigen Minuten versuchte, sich von ihr zu befreien.
„Sie lag einfach da, als wir das Netz einholten.“ Hörte sie ihn stammeln und seine Stimme zitterte, wie sie es noch nie zuvor gehört hatte.
Die Beamten versuchten, beruhigend auf ihn einzureden, doch immer wieder stammelte er: „Sie lag einfach da…einfach so…auf meinem Boot…Oh mein Gott.“
Thorben nahm Tamaras Hand, sodass Henning endlich seine Hand frei bekam und sich wieder bewegen konnte. Der junge Beamte zog Tamara ein paar Meter weiter und schaute ihr tief in die Augen.
„Was kannst Du mir sagen? Hast Du irgendetwas mitbekommen?“
Plötzlich war sie wieder ganz da und schaute ihn mit festem Blick an.
„Nein, ich kann Dir nicht wirklich was sagen.“ Und so erzählte sie ihm, wie sie das Boot beobachtet hatte, als es das Netz einholte, wie sie die Sirenen gehört hatte und schließlich zu Henning hingelaufen war.
Thorben lauschte aufmerksam ihren Worten und er war sich sicher, dass sie auch diesmal etwas bemerkt hatte, was ihr nun durch die ganze Aufregung lediglich entfallen war.
Wenige Augenblicke später trafen sowohl die Kollegen von der Spurensicherung ein als auch der Leichenwagen, der die junge Frau in die Gerichtsmedizin bringen sollte.
„Darf ich Euch mal kurz stören?“ hörten sie die Stimme eines Kollegen von Thorben neben sich. Es war Frank, ein älterer Polizist, der schon seit Thorbens erstem Tag bei der Wismarer Polizei sein Partner war.
„Tamara, ich kann mir denken, dass dies alles ein wenig viel für dich war, aber dennoch würde ich Dich bitten, einmal einen Blick auf die Tote zu werfen, vielleicht hast Du sie schon einmal gesehen. Meinst Du, Du schaffst das?“
Ihre Blicke wanderten von Frank zu Thorben, der ihre Hand hielt und wieder zurück. Sie atmete tief ein, holte tief Luft und nickte entschlossen mit dem Kopf.
Gemeinsam gingen sie nun wieder zum Boot hinüber, wo alle Stimmen versiegten, als sie eintrafen. Die junge Frau lag bereits auf einer Trage und war mit einem Leichentuch abgedeckt. Auf ein Zeichen von Frank hin, zogen die Bestattungsmitarbeiter das Tuch vom Gesicht der jungen Frau und Tamara schaute ihr direkt in die Augen. Diese Augen waren jetzt noch von einer stechenden Klarheit, die vermuten ließ, dass sie noch nicht lange tot sein konnte. Die feinen Gesichtszüge waren von unzähligen Wunden entstellt worden und nur noch schwer zu erahnen. Die hohe Stirn, das weiche Kinn und die schöne Nase offenbarten ein Stück der ursprünglichen Schönheit dieser jungen Frau. Die sauber gezupften Augenbrauen waren noch zu erkennen, ebenso fiel Tamara auf, dass sie sich die Wimpern färben ließ und die Haare blond gefärbt hatte. Darunter war vereinzelt hier und da ein Ansatz mittelblonder Locken zu sehen. Ein Blick auf das Dekolleté der Frau ließ eine Brust OP vermuten, die gepflegten Finger und die sauber lackierten Nägel zeugten davon, dass es sich um eine Frau aus guten Kreisen handeln könnte. Nichts deutete auf einen Ehering hin, also war sie nicht verheiratet.
Und während die Blicke der umstehenden Beamten gebannt auf ihr ruhten, ließ Tamara alle Gesichter, die sie kannte, an ihrem geistigen Auge vorbeiziehen.
Schließlich schüttelte sie den Kopf und zog Thorben wieder auf die Seite. Sie teilte ihm ihre Gedanken mit und er musste gestehen, dass er noch gar nicht darauf geachtet hatte.
Die Beamten notierten sich noch die Personalien von Henning und seinen Männern und teilten ihm mit, dass sein Boot bis auf Weiteres erst einmal beschlagnahmt wäre, man müsse versuchen eventuell vorhandene Spuren zu sichern. Außerdem wurden die Männer darauf hingewiesen, dass sie sich zur Verfügung halten sollten, um beizeiten nach Wismar auf das Revier zu kommen und gegebenenfalls auch noch Fingerabdrücke und Speichelproben für einen Vergleich abzugeben.
Die Männer erklärten sich damit einverstanden und Tamara, die nun wieder voll und ganz bei sich war, bestand darauf, dass die Männer erst einmal mit zu ihr kommen sollten, um einen auf den Schreck zu trinken. Das hieß bei Ihnen immer einen starken Tee mit einem Schuss Rum.
Sie verabschiedete sich von Thorben und Frank und beide mussten ihr versprechen, sie auf dem Laufenden zu halten. Also verabredeten sie, dass die beiden Beamten nach Feierabend auf ein Bier zu ihr kommen sollten.
So machte sich Tamara mit vier finster drein blickenden Fischern auf den Weg zu ihrem Haus, Finja trottete in einigen Metern Abstand hinter ihnen her, als ob sie sich der gegebenen Situation sehr wohl bewusst war.
Zu Hause angekommen, ließen sich die Männer auf der Terrasse in die Stühle fallen, schon oft waren sie hier abends zusammen gesessen und hatten den Sonnenuntergang beobachtet, dem Rauschen der Wellen gelauscht, sich unterhalten oder einfach nur schweigend auf das Meer hinaus geschaut. Sie waren hier ebenso zuhause, wie in ihren eigenen Häusern, es war irgendwie eine tiefe Freundschaft zwischen ihnen entstanden, die oft nicht vieler Worte bedurfte, wie es auch jetzt der Fall war.
Während sich die Männer auf der Terrasse niedergelassen hatten, begab sich Tamara ins Haus und machte Tee. Sie holte den Rum aus der Vorratskammer und beschloss nach kurzem Zögern, dass sie vielleicht doch lieber gleich die ganze Flasche mit nach draußen nehmen sollte. Sie hatte sich dieses kleine Fischerhäuschen ganz bewusst ausgesucht, seine urige Atmosphäre inspirierte sie beim Schreiben und so hatte sie auch die gesamte Inneneinrichtung dem Stil der alten Fischerhäuser an diesem Teil der Ostseeküste angepasst. Das Zentrum der Küche war der große Gasherd, der mitten in der Küche stand und von einer großen Arbeitsplatte umgeben war, sodass es eine Art Kochinsel bildete. Die kleinen Fenster schmückten kleine Fenstergardienen und Kräutertöpfe verschafften ihnen das richtige Landhausflair. Die alten Fliesen hatte sie in der Küche ebenso wenig erneuert, wie das alte Schiffsparkett im restlichen Haus. Selbst die alte, freistehende Badewanne im Badezimmer hatte sie nicht rausreißen, sondern abschleifen und neu emaillieren lassen. So fühlte sie sich wohl in ihrem kleinen Paradies und sie würde nirgendwo auf der Welt lieber sein als hier in ihren vier Wänden, an ihrem Strand, an ihrer Ostsee. Sie liebte dieses Fleckchen Erde wie kein anderes und sie hatte auch so absolut keine Ambitionen, irgendwohin in den Urlaub zu fahren, sie wollte nirgendwo auf der Welt lieber sein, als hier in Boiensdorf, wo sie sich so sicher und geborgen fühlte, wo ihre Freunde waren und alles, was ihr lieb und teuer war.
Der Wasserkessel pfiff und sie goss den Tee auf. Bereits eine Minute später trat sie mit dem Tablett auf die Terrasse hinaus und wieder einmal wurde ihr bewusst, wie viel Glück sie hatte, hier sein zu dürfen. Sie ließ ihren Blick über das Wasser schweifen, die Wellen brachen glitzernd im Schein der Sonne und das beruhigende Rauschen des Meeres drang monoton und gleichmäßig zu ihr herüber. Direkt vor der Terrasse lag ihr ganz eigener Privatstrand, mit dem dazu gehörigen Anlegesteg, allein das Boot fehlte ihr noch. Doch sie hatte gar kein Verlangen nach einem eigenen Boot, viel zu gerne fuhr sie mit Henning und seinen Männern hinaus, bewaffnet mit einem Block und einem Stift, um die Gedanken und Ideen festzuhalten, die ihr auf diesen Fahrten kamen.
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