Nach über einer Stunde erschien Tatjana. In ihrem schulterfreien mintgrünen Kleid, wirkte sie wie ein Traumwesen auf mich. Ein tiefer Ausschnitt gewährte Blicke auf ihre wohlgeformten Rundungen. Eine Bewunderung bis zur Sprachlosigkeit erreichte mich. Die Frage, kann ein Mensch so umwerfend schön sein, drängte sich in meine Gedanken.
Obwohl wir uns am Abend zuvor etwas näher gekommen waren, überraschte mich ein Begrüßungskuss von ihr. Ich fasste sie ganz leicht an den Schultern und gestand ihr, wie schön sie doch sei. Sie setzte sich zu mir und ich bestellte eine Weinschorle für sie. Sie lachte und war amüsiert darüber, wie schnell ich ihre Gewohnheiten registriert hatte. Als wir miteinander anstießen, sah ich ihre edle Uhr am rechten Handgelenk. Darauf angesprochen, warum sie ihre Uhr rechts trage, meinte sie nur: „Weil alle anderen Leute sie links tragen.“
Wir hatten eine Menge Spaß, aber zunehmend wurde sie ernster und nachdenklicher. Ich bat sie darum, mir zu erzählen, was mit ihr los sei und was sie bedrücke. Sie meinte, sie hätte Angst, sich in mich zu verlieben. Um sich zu erklären, begann sie zu erzählen.
Geboren wurde sie 1982 als erstes von zwei Kindern. Ihr Bruder Nikolai folgte ihr erst 14 Jahre später. Durch den relativ großen Altersunterschied wuchsen beide zunächst wie Einzelkinder auf. Ihre Eltern sicherten den Lebensunterhalt durch den Betreib eines kleinen Lebensmittelgeschäftes am Moskauer Stadtrand. Zu Reichtum hatte es zwar nie gereicht, ein sorgenfreies und unbeschwertes Leben aber war ihnen stets vergönnt. Beide Geschwister waren überdurchschnittlich talentiert. Tatjana tat sich mit dem Abitur nicht sonderlich schwer und begann mit 21 Jahren Chemie zu studieren. Als sie das dritte Semester besuchte, ihr Bruder war gerade acht Jahre alt, verunglückten beide Eltern bei einem Verkehrsunfall tödlich. Um Nikolai vor der Einweisung in ein Heim zu bewahren, entschieden einsichtige Behörden, ihn bei seiner großen Schwester aufwachsen zu lassen.
Von diesem Moment an, war Tatjana völlig auf sich alleine gestellt. Neben ihrem Studium zog sie liebevoll ihren Bruder auf und kümmerte sich nebenbei um Haushalt und andere anfallende Arbeiten. Um die Miete für die Wohnung bezahlen zu können, bediente sie abends in einer kleinen Bar in der Innenstadt. Durch ihr freundliches Wesen und ihre Aufgeschlossenheit den Gästen gegenüber, rundeten diese die anfallenden Rechnungen meist großzügig auf. So verfügte Tatjana über genügend Einnahmen, um zusammen mit ihrem Bruder einigermaßen würdig über die Runden zu kommen. Mit 24 Jahren wurde ihr eine Praktikantinnenstelle in einer Chemiefabrik zugewiesen. Dies war genau die Firma, in der sie später einmal fest angestellt wurde und die ihren weiteren Lebensweg so maßgeblich mitbestimmen sollte.
Schon als sie sich für das Praktikum bewarb, war sie mehreren leitenden Angestellten vorgestellt worden. Hinter vorgehaltener Hand wurde gemunkelt, dass die Firma unter anderem auch mit der Herstellung von Kampfstoffen vertraut war. Deshalb kam ein äußerst strenges Auswahlverfahren für künftige Mitarbeiter zur Anwendung. Dabei richteten sich die Fragen in erster Linie nach Systemtreue. Da Tatjana in dieser Hinsicht ziemlich unbedarft war, stellte es kein großes Problem dar, sie auf den richtigen Kurs einzustimmen und ihr somit den Anstellungsvertrag aushändigen zu können.
Ab dem ersten Tag ihres sechswöchigen Praktikums zeigte Tatjana großes Engagement. In einer Art Jobrotation wurde sie in drei der vier Abteilungen eingeführt. Dabei lernte sie die jeweiligen Vorgesetzten und die zugehörigen Mitarbeiter kennen. Neben einer eigenen Sparte für Forschung und Entwicklung medizinischer Präparate, gab es daran anhängend eine zur Herstellung von Pharmaprodukten und einen beinahe unbedeutenden Nebenzweig für Kosmetika.
Die vierte Abteilung war von allen anderen abgeschottet und eine Art Firma in der Firma. Dicke Stahltüren und eigene Pförtner überwachten den Zutritt. Dahinter grenzte der Bereich in dem teilweise die Erforschung und Schaffung chemischer Kampfstoffe vermutet wurde. Da aber seit 1997 chemische Waffen sowohl durch die Chemiewaffenkonvention, wie auch seit 2005 durch das Genfer Protokoll international geächtet sind, ist auch die Entwicklung, Herstellung und Lagerung offiziell verboten. Um diesem Verbot Rechnung zu tragen, wurde am 1. April 2006 durch den Staat die zweite russische Anlage zur Vernichtung von Chemiewaffen in Kambarka, Republik Udmurtien in Betrieb genommen. Deshalb gab es in Tatjanas Privatunternehmen keine offiziellen Hinweise darauf, was genau in dem verschlossenen Teil hergestellt wurde. Auffällig war jedoch, dass diesen Firmenteil nur Mitarbeiter betreten durften, die tatsächlich darin beschäftigt waren. Die Firmenleitung war stets bemüht, diesen Mitarbeiterkreis möglichst klein zu halten. Ihr Leiter Igor Panev genoss bei den Firmeninhabern höchste Wertschätzung, während die normalen Mitarbeiter ihn fürchteten und wenn möglich jeglichen Kontakt zu ihm mieden. Schon durch sein Äußeres verbat sich jegliche Sympathie. Er war stark übergewichtig, hatte einen quadratischen Schädel mit nur noch wenigen nach hinten gekämmten Haaren und wirkte äußerst ungepflegt. Obwohl er niemals in Eile zu sein schien, standen ihm regelmäßig dicke Schweißperlen auf der Stirn. Auch seine Kleidung wirkte im Vergleich zu seiner Position und seinem Einkommen eher unpassend. Man sah ihn ausschließlich in zerschlissenen und ungewaschenen Hemden. Kam man ihm näher als gewollt, war eine unangenehme Ausdünstung zu spüren. Wegen seines Verhaltens einzelnen Mitarbeitern gegenüber, meist Frauen, bezeichneten ihn bestimmte Kollegenkreise als Drecksack. Diese Bezeichnung hatte er sich über die Jahre erarbeitet. So wurde eine langjährige Kollegin gefeuert, weil sie ihm angeblich die Tür nicht aufgehalten hatte. Auch ihre Beteuerungen, ihn nicht gesehen zu haben, verhinderten ihren Rauswurf nicht. Panev begegnete sämtlichen Mitarbeiterinnen im Unternehmen mit Geringschätzung und machte auch keinen Hehl daraus. Da er aber der wichtigsten Abteilung vorstand, war er nach der Firmenleitung der mächtigste Mann in der Firma. Viel später einmal sollte auch Tatjana mit ihm zu tun bekommen.
Tatjana lernte trotz ihrer Mehrfachbelastung sehr schnell und beendete mit 27 Jahren ihr Studium als Jahrgangsbeste. Nur kurze Zeit später kränzte sie ihre Ausbildung durch Dissertation. Diese hatte als Thema den Nachweis auf Tierorgane bei der Kosmetikherstellung verzichten zu können. Bei Tierschützern baute sie sich so eine größere Lobby auf, in der eigenen Firma aber stieß sie auf wenig Gegenliebe. Trotzdem erhielt sie wenig später eine Festanstellung, die ihr ein ausreichendes Einkommen sicherte.
Fortan arbeitete Tatjana in der Abteilung zur Herstellung von Kosmetika. Dabei lernten Kollegen ihr offenes Wesen und ihre Sachlichkeit schätzen. Dies war keinesfalls selbstverständlich, da sich etliche Mitarbeiter dem totalitären Firmenstil eher anpassten, um nicht zu sagen, anbiederten. Jeder in der Firma versuchte seine Arbeit so gut wie möglich, aber ohne großes Aufsehen zu verrichten. Kollegen gegenüber verhielt man sich eher zurückhaltend, bei Vorgesetzten rang man um Anerkennung. Dabei konnte einem der Hinweis auf eine Untugend eines Kollegen durchaus zum Vorteil gereichen. Die Schlüsselpositionen der mittleren Führungsebene belegten genau die Leute, die mit den Oberen am besten kommunizierten. Dabei war der Verrat eines Kollegen durchaus karrierefördernd.
Es kam vor, dass Mitarbeiter von eigenen Kollegen erpresst wurden. Eine junge Frau, die als Alleinverdienende zusammen mit ihren Eltern wohnte, sollte eines Teil ihres Einkommens abtreten, weil sie eine der Cremetuben unerlaubt mit nach Hause genommen hatte. Trotz ihrer Beteuerungen, die beinahe wertlose Tube wiederzubringen, wurde sie beim firmeneigenen Werkschutz gemeldet. Sie wurde entlassen, während der Verräter vor versammelter Mannschaft belobigt wurde. So gesehen war die gesamte Firma ein Riesensumpf. Tatjana bekam aufgrund ihrer anfänglichen Naivität davon zunächst nichts mit. Dies sollte sich aber ändern.
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